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Die Attacke kommt unerwartet, sodass ich nur wehrlos die Augen aufreiße, als ich mit mit voller Wucht gegen die Wand geschmettert werde. Reflexartig schreie ich auf. Schmerzerfüllt sacke ich zusammen und versuche meiner Gegnerin kriechend zu entkommen.
Olivia ist ein Stück kleiner als ich, allerdings viel breiter und offensichtlich auch stärker. Doch der Hauptaspekt in dieser Situation ist, dass sie förmlich rasend vor Wut scheint. All ihre Berührungsängste und zurückhaltenden Blicke scheinen nie da gewesen zu sein. Alles was sie will, ist, Zerstörung!
Gerade noch rechtzeitig kann ich ihrer Faust ausweichen, die daraufhin mit voller Wucht gegen die Wand prallt.
Zu meinem Entsetzen scheint sie überhaupt keinen Schmerz zu empfinden, sondern wendet sich direkt wieder mir zu.
Panisch rappele ich mich auf und stolpere ein paar Schritte von ihr weg. Vergeblich - noch bevor ich richtig Abstand zwischen uns bringen kann, hat sie mich am Nacken gepackt und zieht mich brutal zurück.
Erneut entweicht ein Schrei meiner Kehle.
Schmerz, Verwirrung und Angst vermischen sich in mir und legen mein Gehirn wie tot.
Kurz glaube ich Schritte im Treppenhaus zu hören. Hat mich auf den unteren Stockwerken jemand gehört? Bitte, irgendjemand...
Verzweifelt versuche ich mich loszureißen, nach ihr zu treten oder sie irgendwie mit meinen Händen zu erreichen, aber Olivia bewegt sich zu schnell. Bevor ich sie auch nur berühren kann, verpasst sie mir einen Kinnhaken und für einen Moment wird mir schwarz vor Augen.
Beinahe wünsche ich mir in die Bewusstlosigkeit wegzusacken, doch nur den Bruchteil einer Sekunde später spüre ich nur zu deutlich ihre massive Hand um meinen Hals.
Ein kläglichen Röcheln entweicht meiner Kehle.
Der Druck verstärkt sich und meine Panik wächst. Je mehr ich versuche mich zu wehren, desto fester wird meine Luftröhre zugedrückt.
Olivias Gesicht ist nur wenige Zentimeter vor meinem. Noch nie habe ich sie so entschlossen und lebendig gesehen.
Mit geweiteten Augen starre ich sie an, in der bloßen Hoffnung, dass sie den Mensch in mir sieht, die Person die ihr beigebracht hat Klavier zu spielen.
Meine Lungen schreien nach Luft, ich kann nicht klar denken, nur panisch um mich schlagen.
Die Welt vor meinen Augen verschwimmt und gerade als ich denke, ich würde sie für immer hinter mir lassen, verschwindet Olivias Hand plötzlich.
Wie ein Stein falle ich zu Boden und schnappe nach Luft.
Automatisch schnellt meine eigene Hand zu meinem Hals, als wollte ich ihn hüten.
Keuchend hebe ich schließlich den Kopf und merke augenblicklich, dass ich von mehreren Jugendlichen umrundet bin. Courtney steht am nähsten bei mir und hält eine Art Bratpfanne in der Hand. Zu ihren Füßen liegt eine bewusstlose Olivia.
»COURTNEY!«
Als ich Ivys Stimme höre, kommt endlich wieder Leben in mich.
»Geht es dir gut?!« Ihre Gestalt sinkt zu mir auf den Boden und nimmt mit ihren kleinen Händen meinen Kopf in die Hand. »Was ist passiert?!«
»Olivia Brooks«, murmle ich, selbst noch fassungslos. »Sie- sie war in unserem Zimmer und hat alle Klamotten außeinander gerissen. Und als sie mich gesehen hat... Ist sie auf mich losgegangen!«
»Was?«, haucht Ivy mit Tränen in den Augen. »Warum würde sie sowas tun?«
»Ich weiß es nicht.« Erstmals wird mir bewusst, dass mindestens zwanzig Augenpaare auf mich gerichtet sind. Meine Schreie müssen wohl das halbe Haus hergelockt haben.
Hastig richte ich mich wieder auf.
Ein breiter, dunkelhäutiger Junge, der mir irgendwie bekannt vorkommt, tritt vor und stupst den bewusstlosen Körper mit der Fußspitze leicht an.
»Sie lebt noch«, kommentiere ich leicht ärgerlich. »Sie ist nur ausgeknockt.«
»Ich bin vielleicht keine gute Köchin, aber niemand kann mir sagen, dass ich nicht mit Pfannen umgehen kann.« Amüsiert streicht Chelsey über den Messinggriff ihrer Waffe.
Kurz treffen sich unsere Blicke.
»Gern geschehen«, formt sie mit ihren Lippen lautlos.
»Quit«, antworte ich, ebenso ohne dass es jemand hört.
Der muskulöse Junge lacht unterdessen nur spöttisch. »Mir ist bewusst, dass sie durch deinen Mini-Stoß nicht draufgegangen ist. Ich versuche was anderes rauszufinden.«
Er lässt sich hart auf den Boden fallen, dreht Olivias Körper grob um, zieht ihre Lider auf und begutachtet ihre Unterarme.
»Ich verstehe nicht...«, flüstert Ivy mit zittriger Stimme. Sie klammert sich an meinen Oberarm und ich bin mir nicht sicher, ob sie mich heute noch loslassen wird.
»Ich auch nicht«, antworte ich so ruhig wie möglich. Auf keinen Fall möchte ich zeigen, wie viel Angst mir dieser Mordversuch bereitet hat. »So habe ich sie noch nie gesehen.«
»Sie stand unter Drogen.«
»Was?« Mein Kopf wendet sich dem Jungen zu.
»Bist du schwerhörig?! Irgendjemand hat ihr was ins Glas gekippt.«
Er stemmt sich wieder hoch und tritt verächtlich gegen Olivias Kopf.
Mir gefällt nicht die Art wie er mit ihr umgeht, allerdings ist seine Feststellung interessant.
Wie kann er sich so sicher sein?
Und wie sollten Drogen hier rein gekommen sein?
In diesem Moment fällt mir auf, warum er mir bekannt vorkommt. War er nicht einer der Jungen, die an Kimberly klebten?
Rasch überfliege ich die Menge der Jungendlichen und schon nach wenigen Sekunden fällt sie mir ins Auge. Ihr Gesichtsausdruck ist steinern, als wäre nie etwas geschehen. Auch ist ihr Blick nicht auf mich gerichtet, sondern starr auf den dunkelhäutigen Jungen.
»Können wir sie in ein Zimmer sperren, falls sie beim Aufwachen noch unter Einfluss der Droge steht?«, frage ich, ohne die Augen von Kimberly zu lassen.
»Du hast echt keine Ahnung von Drogen, huh?«
Genervt wende ich mich an den breiten Typen. »Wenn es so wäre hätte ich dir schon lange etwas verabreicht, um dich ruhig zu stellen.«
Ivy drückt leicht meine Hand, um mich zu beruhigen.
»Versuchs doch mit der Bratpfanne deiner kleinen Freundin, das scheint doch ganz gut geklappt zu haben«, gibt er abwertend zurück.
Noch bevor wir uns weiter streiten können, erklären sich zwei Mädchen (anscheinend Olivias Zimmernachbarinnen) dazu bereit, sie vorerst in ihren Raum zu bringen.
Kurz danke ich ihnen, während die Menge der Schaulustigen sich langsam auflöst.
»Ivy, könntest du kurz mit ihnen gehen? Ich möchte nur sicher gehen, dass es ihr gut geht«, bitte ich sie sanft und gebe ihr einen Kuss auf die Schläfe.
Sie bejaht und ist kurz darauf verschwunden.
Entschlossen nehme ich Chelsey am Handgelenk, überbrücke mit wenigen Schritten ich die kurze Distanz zwischen Kimberly und mir und ziehe sie an mich heran.
»Du hast vielleicht drei Minuten mir alles über den Typen zu erzählen, was du weißt, bis Ivy wieder da ist, also fang lieber jetzt an.«
Bissig verschränkt mein Gegenüber die Arme. »Und weswegen sollte ich das tun.«
»Weil ich denke, dass er es war, der Olivia Drogen untergejubelt hat. Ansonsten hätte er sich nicht so schnell, so sicher sein können.«
Kurz weiten sich Kimberlys Augen, dann nickt sie zu meiner Überraschung.
»Sein Name ist Blake Weston. Er kommt ursprünglich Queens und hat sich nur drei Tage vor seinem achtzehnten Geburtstag für das Experiment eingeschrieben. Und siehst du den Jungen neben ihm?« Sie nickt unauffällig mit dem Kopf in die Richtung der beiden. Meine Augen erfassen einen blassen, schmächtigen Jungen, der gut zwei Köpfe kleiner ist, als Blake. Ich glaube mich daran erinnern zu können, dass er der zweite Junge war, der bei Kimberly am Tisch saß. »Das ist Will. Praktisch Blakes Schatten. Die beiden haben eine Art Deal, dass der Kleine sich als sein Diener aufspielt und dafür vor eventuellen Handgreiflichkeiten geschützt wird.«
Langsam nicke ich.
»Bist du sicher, dass er es war?«, fragt Chelsey zweifelnd. »Welchen Grund hätte er? Und wie soll er überhaupt an die Mittel gekommen sein?«
»Es muss irgendjemand aus diesem Haus gewesen sein«, erkläre ich eindringlich und massiere mir dabei meinen Hals, an dem ich immer noch die Stellen spüre, an denen Olivias Hand sich wie ein Schraubstock zugedreht hat. »Irgendjemand, der das Experiment sabotieren wollte.«
»Weshalb sollte das jemand wollen? Es geht um die Freiheit jedes einzelnen.«
»Dashier sind keine normalen Menschen, Chelsey«, schaltet Kimberly sich wieder ein. Ihre Stimme klingt leicht herablassend, doch zumindest können wir uns unterhalten, ohne uns gegenseitig anzugiften. »Die Jugendlichen hier haben schreckliche Dinge getan, sie lieben das Chaos! Sie sind intelligent, hinterlistig und irre.«
»Wir gehören zu diesen Jugendlichen«, entgegne ich kalt.
»Tun wir das wirklich, Courtney? Offiziell vielleicht schon, aber siehst du dich tatsächlich als Teil dieser Gruppe?« Überheblich lässt Kimberly ihren Blick schweifen.
»Niemand sieht sich als Teil dieser Gruppe«, murmle ich. »Aber wir werden trotzdem als gleichgestellt angesehen.«
Genervt verdreht sie die Augen. »Das ist jetzt nicht das Thema. Solange Blake weiter machen kann, könnte jeder in diesem Haus jederzeit von jedem angegriffen werden!«
»Du scheinst dir ja ziemlich sicher zu sein«, sagt Chelsey leise, aber Kimberly schenkt ihr keine Beachtung. Sie setzt gerade neu an, als Ivy zu uns tritt.
»Hey, hab ich was verpasst?«
Rasch schüttle ich den Kopf. »Nein, keine Sorge.«
Unerwartet tritt Ivy an mir vorbei und schlingt ihre Arme um Chelsey.
»Danke dass du Courtney gerettet hast! Wärst du nicht gewesen, ich weiß nicht was-« Ihre Stimme bricht ab und sie atmet zittrig aus, als sie sich von ihrer neuen Heldin löst. Unsicher tritt sie ein paar Schritte zurück und ich lege meinen Arm um sie.
Chelseys Blick geht kurz unsicher zu mir. Sie hat wohl immer noch meine vorherige Drohung in den Ohren.
Unruhig hole ich Luft und nicke schließlich. »Ja. Danke, Chelsey.«
Wie könnte ich sie noch länger hassen? Sie hat mir das Leben gerettet und somit wenigstens wieder gut gemacht, was sie mir in der Vergangenheit angetan hat.
»Süß«, kommentiert Kimberly trocken und wendet sich ab. »Und jetzt entschuldigt mich, ich glaube ich muss mich übergeben.«

Ein paar Stunden später hat sich absolute Stille über das Haus gelegt. Alle liegen in ihren Betten und das einzige was noch zu hören ist, ist gleichmäßiges Atmen und zwischendurch ein leises Schnarchen.
Olivia ist vorhin noch einmal zu Bewusstsein gekommen - dieses mal als sie selbst. Sie hat sich tausend Mal bei mir entschuldigt und musste uns leider mitteilen, dass sie nicht bewusst Drogen verabreicht bekommen hat. Wer auch immer der Verantwortliche war, muss es ihr heimlich ins Getränk gemischt haben.
Als schließlich alle schlafen gegangen sind, war es fast, als wäre nie etwas geschehen.
Es ist beinahe Mitternacht, als wir urplötzlich aus unserer Ruhe gerissen werden: durch unser gesamtes Stockwerk hallen Schreie - Olivias Schreie. Voller Verzweiflung und Furcht, ohne dass es einmal unterbrochen wird.
Ich bin als erstes aus unserem Zimmer auf den Beinen. So schnell wie möglich stürme ich in Richtung Tür, will sie aufreißen und- sie ist verschlossen. So sehr ich auch an dem Griff rüttle und mich dagegen stemme; sie geht geht nicht auf.
Eigentlich ist es nicht möglich, abzuschließen - zumindest uns Jugendlichen nicht.
Kimberly befindet sich nun neben mir.
»MACH AUF!«, schreit sie mich an.
»ES GEHT NICHT«, antworte ich beinahe hysterisch.
Gleichzeitig werfen wir uns gegen die massive Tür, doch sie rührt sich keinen Zentimeter.
Noch immer sind Olivias Schreie von draußen zu hören. Es klingt als versuchte sie Worte zu sagen, uns etwas mitzuteilen, doch ihre Panik ist zu groß, als dass sie sich ausdrücken könnte. Es sind nicht die verzweifelten Laute, die man unter Schmerzen ausstößt - nein, sie hat Angst. So große Furcht, dass es sie beinahe durchdrehen lässt und es hört einfach nicht auf.
Noch nie zuvor habe ich einen Menschen derart verzweifelt gehört.
Verzweifelt kratzen meine Nägel über die Wand.
Ich möchte ihr helfen! Trotz allem bin ich noch mit ihr befreundet - trotz allem ist sie noch das Mädchen, dem ich beigebracht habe Klavier zu spielen.
Mein Herz schlägt so fest, dass ich glaube, dass es mit jeden Moment aus dem Brustkorb springt. Am liebsten würde ich meine Ohren nur verschließen und mich all dem entziehen.
Was geschieht mit ihr?
Warum kann ich nichts tun?
Es soll alles einfach nur aufhören...
Plötzlich legt jemand seine Arme um mich und es dauert ein paar Sekunden, bis ich begreife, dass es Ivy ist. Erst jetzt bemerke ich, dass Tränen über meine Wangen laufen. Ich fühle mich wie ein wildes Tier in einem Käfig. In diesem Moment würde ich alles dafür geben, handeln zu können.
Ivys Hand streicht über meinen Hinterkopf und hilft mir, mich zu beruhigen.
Allmählich kriege ich meinen Atem wieder unter Kontrolle und ich bin meiner kleinen Helferin dankbarer als je zuvor.
Inzwischen klingt es, als würden Olivias Schreie in der Ferne leider werden und schließlich nicht mehr hörbar sein.
Kurz hebe ich den Kopf; gerade noch rechtzeitig um zu sehen, wie unsere Tür endlich aufgeht und Kimberly als erstes raus stürmt.
Ohne zu zögern greife ich Ivys Hand und renne auf den Gang hinaus.
Im selben Moment gehen alle anderen Türen auf dem Korridor auf und verstörte Mädchen rennen hinaus. Offensichtlich waren wir nicht die einzigen, die eingesperrt wurden.
»Was ist passiert?!«, frage ich hektisch.
Ein Mädchen mit tränenüberströmten Gesicht tritt vor. Ich habe sie als Olivias Zimmernachbarin im Kopf. »Unsere Tür wurde auf einmal aufgestoßen, als wir alle geschlafen haben! Wächter sind reingerannt und haben Olivia gepackt. Sie hat Panik bekommen, wollte nicht berührt werden und hat immer lauter geschrien und um sich geschlafen! Aber die Männer waren stärker und haben sie mitgenommen.«
Mir fällt die Kinnlade runter und automatisch geht mir eine der Regeln durch den Kopf: Bei Körperverletzung und Sachbeschädigung wird die Todesstrafe augenblicklich durchgezogen.
Sie haben Olivia mitgenommen, um sie umzubringen. Die Türen wurden digital bin den Wärtern verschlossen, damit wir sie nicht behindern konnten.
»Courtney!«
Ich drehe mich um und sehe, dass Chelsey, die sich noch unserem Zimmer befindet, mich zu sich winkt.
Unwillig lasse ich Ivys Hand los und gehe zu ihr.
Sie sitzt am Fenster, von wo man den perfekten Blick auf die Einfahrt hat. Gerade noch rechtzeitig sehe ich hinaus, um zu beobachten, wie Olivia grob in einen Gefängnistransporter gezwungen wird. Wenige Sekunden später ist der Wagen, so wie meine Freundin verschwunden.
»Es war nicht ihre Schuld!«, hauche ich mit einer Mischung aus Wut und Frust in der Stimme. »Wer immer ihr das angetan hat...«
»Courtney«, flüstert Chelsey mir zu und beugt sich ein Stück vor. »Ich glaube nicht, dass es Blake war. Ich denke es war Kimberly.«

Strangers with memoriesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt