Zwei Stunden später hat Kimberly sich beruhigt, wir haben einen Plan geschmiedet und alles ist vorbereitet.
Wie gewohnt verlassen wir nicht gleichzeitig den Aufzug, sondern verlassen ihn im Abstand von zehn Minuten. Chelsey geht als erste, während ich mit Kimberly zurück bleibe.
»Von der Küche aus werden wir den Fahrstuhl den ganzen Nachmittag beobachten können«, murmle ich und starre überlegend die gegenüberliegende Wand an. »Ich hoffe alles geht so auf, wie es sollte.«
»Das muss es«, erwidert Kimberly grimmig. »Mein Kind wird keine Mutter haben, die bei solchen Aktionen versagt!« Kurz sieht sie zu mir rüber und ihr Gesichtsausdruck wird etwas weicher. »Und Ivy hat keine Freundin, die sie nicht beschützen kann.«
Etwas beklommen nicke ich. Hoffentlich bewahrheitet sich das.
Für eine Weile versuche ich die Sekunden zu zählen, bis ich Chelsey folgen kann, aber als Kimberly weiter redet komme ich raus:
»Wenn du rauskommst - was willst du machen?«
Überrascht hebe ich den Kopf. »Was?«
»Ich meine, wenn wir frei sind: was hast du vor?«
Die Frage bringt mich ernsthaft zum Nachdenken. Bisher habe ich mir nicht erlaubt, mir Gedanken darum zu machen, da es sowieso nur in Enttäuschung enden würde, doch vielleicht wäre es gar nicht das schlechteste einen Plan zu haben.
»Ich denke, ich will nicht zurück nach Manhatten. Im Gegenteil - weit weg von New York! Vielleicht sogar raus aus den USA. Vielleicht könnte ich Ivy mitnehmen und wir könnten neu anfangen...«
»Und was ist mit uns? Courtney, Chelsey, Kimberly - was wird daraus?« Ihr ernster Ton ist ungewohnt, doch sie scheint die Antwort wirklich wissen zu wollen.
»Ich- ich weiß es nicht. Aber... Ich denke nicht, dass es klug wäre in Kontakt zu bleiben.« So sehr es auch weh tut, dies zuzugeben, es ist die Wahrheit.
Kimberly seufzt leise auf. »Wahrscheinlich hast du Recht. Wir würden nur in alte Muster zurück verfallen und zu schnell vergessen, was die Vergangenheit uns gelehrt hat.«
Langsam wende ich den Kopf zu ihr. »Dashier wird das letzte Mal, nicht wahr? Wir werden nie wieder etwas zusammen machen. Nachdem unser Plan vollendet ist - ob er aufgeht oder nicht, sind wir wieder verpflichtet Fremde zu sein. Und dann kommen wir entweder wieder in getrennte Zellen oder müssen uns in der Freiheit voneinander fernhalten.«
Kimberly mustert mich kurz, dann nickt sie. Ihr Gesicht verbirgt die Traurigkeit, doch ihre Augen sprechen Bände.
»Courtney... Wenn das tatsächlich das Ende ist, dann möchte ich nichts bereuen. Also... Es tut mir leid.«
Kurz begreife ich nicht, was sie gesagt hat. In Jahren von Freundschaft habe ich nie gehört, dass Kimberly Hammond sich jemals entschuldigt hat.
»Es tut mir leid, dass ich deine Liebe nie erwidern konnte, es tut mir leid, dass mein Einfluss dich zu einem schlechteren Menschen gemacht hat, als du es bist und es tut mir leid, dass ich Ivana Mackenzie umgebracht habe und uns somit alle ins Gefängnis gebracht habe.«
Ich brauche ein paar Sekunden, um das Gehörte zu verarbeiten. Sie spricht ehrlicher, als sie es je zuvor getan hat.
»Es gibt nichts was ich bereue«, antworte ich schließlich sanft und erhalte ein zittriges Lächeln als Antwort.
»Ivy hat Glück dich zu haben.«
»Dein Kind hat Glück, von so einer starken Mutter erzogen zu werden.«
»Wenn ich es erziehen darf...«
Kurz herrscht Stille, dann nehme ich Kimberly in den Arm. Es gibt noch viel, was ich ihr gerne sagen würde. Erinnerungen, für die ich mich bedanken möchte, Wünsche, die sie verdient hätte, Komplimente, die sie hören sollte. Doch nichts davon hat so viel Wert, wie sie noch einmal umarmen zu können.
Von den wenigen emotionalen Momenten, die ich jemals mit ihr geteilt habe, ist dashier definitiv der schönste.
Nach einer Weile lasse ich sie los und lasse die Türen des Fahrstuhls aufgleiten.
»Alles wird gut«, sage ich noch über meine Schulter, aber ich erhalte keine Antwort. Dennoch hoffe ich, dass sie mir glaubt.Ich betrete unser Zimmer und mein Blick fällt augenblicklich auf Ivy, die auf der Fensterbank sitzt. Sie tut das gerne, da sie von dort aus den Himmel beobachten kann und sich somit der Freiheit am nächsten fühlt. Doch heute sind ihre Auhen nicht nach draußen gerichtet, sondern auf Chelsey, die ihr gegenüber steht und sich mit ihr unterhält.
Geräuschvoll schließe ich die Tür hinter mir, woraufhin meine Freundin sich direkt umwendet und bei meinem Anblick erfreut aufspringt.
»Courtney!« Sie läuft auf mich zu, stellt sich leicht auf die Zehenspitzen und legt ihre Arme auf meine Schultern. »Ich hab dich den ganzen Tag nicht gesehen. Wo warst du?«
»Tut mir leid«, sage ich und küsse sie sanft auf die Lippen. »Ich war im Gemeinschaftsraum.«
Als Ausrede ist dies perfekt, da ich genau weiß, dass - so sozial sie auch ist - Ivy die Gesellschaft einiger Insassen fürchtet und sich deswegen meistens vom Gemeinschaftsraum fern hält.
Noch immer an mich geschmiegt legt sie den Kopf leicht schräg. »Essen wir dann wenigstens heute Abend zusammen?«
»Ich kann nichts versprechen«, antworte ich mit ehrlichem Bedauern. »Eigentlich habe ich nicht wirklich Hunger.«
»Ach komm schon! Du willst das sicher nicht verpassen. Chelsey hat mich erst gerade eben darauf angesprochen, dass sie heute Abend dem Küchenteam hilft. Es wäre ein Jammer, wenn du die Premiere unserer neuen Köchin verpassen würdest.«
Sie dreht sich zu Chelsey um und schenkt ihr ein Lächeln. Beinahe reflexartig lege ich meine Arme von hinten um meine Freundin.
Kurz nutze ich die Gelegenheit, dass Ivy mich nicht ansieht, um Chelsey zuzunicken. Die ersten Schritte unseres Plans sind also eingeleitet.
»Okay, ich werde da sein«, verspreche ich sanft, doch gleichzeitig unsicher, ob ich es halten kann. Wenn der Plan aufgeht, würde sie es sicher verstehen.
Nur zu gerne würde ich sie ebenfalls einweihen, aber das letzte was ich möchte, ist, dass sie selbst irgendwie mit rein gezogen wird. Ihre Sicherheit ist meine Hauptmotivation in dieser Sache, dann sollte ich sie nicht kurz vor dem Erfolg unnötig in mehr Gefahr bringen, also sie sowieso schon ist.
Erleichtert stelle ich fest, dass Ivy nichts von meiner kurzen Unsicherheit gemerkt hat. Stattdessen dreht sie sich erfreut um und küsst mich erneut. »Perfekt, dann sehen wir uns nachher! Ich gehe noch duschen. Chelsey; wir zwei treffen uns so in einer Stunde in der Küche, in Ordnung?«
»Okay.« Noch einmal drücke ich ihre Hand, während Chelsey nickt.
Auf dem Weg nach draußen stößt meine Freundin fast mit Kimberly zusammen und entschuldigt sich mehrmals.
Mit einer hochgezogenen Augenbraue sehe ich zu den beiden. Kimberly ist zu früh wieder hochgekommen, aber Geduld war noch nie ihre Stärke.
Wenige Sekunden später ist Ivy weg und wir sind zu dritt in unserem Zimmer.
Immer wenn wir außerhalb des Fahrstuhls beieinander sind, habe ich das Gefühl, dass sie Kameras und Mikrofone hellwach sind. Ob sich die Wachen über ihre Monitore beugen, um herauszufinden, ob wir uns verraten? Warten sie nur darauf, uns wegen Regelverstoß raus zu holen?
Obwohl dieser Gedanke schwer auf mir lastet, habe ich mir seit Anbeginn meiner Zeit hier geschworen, ihnen diesen Triumph nicht zu verschaffen.
Ich lasse mich auf mein Bett fallen und greife nach dem Buch, welches Ivy mir empfohlen hat zu lesen. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, es nur zu überfliegen, doch für den Moment ist es tatsächlich eine gute Ablenkung.
Während Kimberly sich ins Fitnessstudio verabschiedet und Chelsey zum Gemeinschaftsraum geht, versinke ich in einer völlig neuen Welt. Zu meiner Überraschung gefällt es mir tatsächlich. Kurz muss ich über die Tatsache lächeln, wie gut Ivy mich kennt. Ich habe eine unglaubliche Freundin.
Tatsächlich habe ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, von Liebe sprechen zu können. Alles davor waren nur Spielchen oder Crushes, doch Ivy Bennett hat es tatsächlich geschafft, mich kitschige Schmetterlinge im Bauch fühlen zu lassen und mir die Vorstellung in den Kopf zu setzen, wie wir Seite an Seite alt werden.
Ich weiß nicht was mein altes Ich aus Manhatten seltsamer finden würde: dass ich diese Gefühle habe oder dass es mir tatsächlich gefällt, so zu fühlen.
Mit einem leisen Lächeln lege ich das Buch zur Seite und starre gedankenverloren an die Decke des Zimmers.
Nach einer unbestimmten Weile wird die Tür geöffnet und ich setze mich hastig auf. Niemand sollte mich kindisch, verträumt sehen.
Kimberly steht im Rahmen und sieht zu mir hoch.
»Es müsste bald Essen geben«, sagt sie betont beiläufig. »Sollen wir schon mal zur Küche?«
Kurz nicke ich und klettere von meinem Hochbett herunter.
Schweigend gehen wir nebeneinander durch den Korridor und schließlich die Treppe herab. Als wir zum Fuß der untersten Stufe kommen, wagen wir es kurz einen Blick auszutauschen.
Jetzt geht der Plan richtig los.
Die Tür zur Küche ist weit geöffnet, wodurch der ganze Flur von Essensgeruch erfüllt wird. Ich kann ein paar Jugendliche beobachten, die sich entspannt unterhalten und eher beiläufig ihre Arbeit erledigen. Chelsey steht am Spülbecken, so nah wie möglich am Aufzug.
Beruhigt atme ich aus.
Fast schon sehnsüchtig werfe ich einen Blick auf die Straftäter, die sich in den letzten Tagen näher gekommen sind und sich immer besser verstehen. Würde ich auch nur mit einem von ihnen reden, wäre die Person wohl nicht mehr lange am Leben.
Kimberly stößt mich sanft an und ich wende hektisch den Blick ab. Unauffällig nickt meine Begleiterin mit dem Kopf zur Seite und wir gehen ein paar Schritte in Richtung Esszimmer. Das letzte was wir wollen, ist, dass jemand Verdacht schöpft.
Wir warten einige Minuten, dann kommt Chelsey mit schnellen Schritten auf uns zugelaufen.
»Jemand ist im Aufzug!«
»Wer?!«, frage ich aufgeregt, während wir uns bereits zu dritt aufmachen und zurück in die Küche gehen.
»Ich habe es nicht richtig gesehen«, gibt sie atemlos zu. »Aber ich habe noch gesehen, wie die Türen zugegangen sind!«
Ab jetzt interessiert es mich nicht mehr, dass die Kameras unsere Konversation aufnehmen oder dass sich die anderen Köche wundern, was wir hier machen. Das ist unsere Chance!
So schnell wir können, gelangen wir zum Fahrstuhl und pressen beinahe reflexartig unser Ohr gegen die Tür.
Die Kabine selbst, muss ein Stockwerk unter uns sein, auf Höhe der Vorratskammer, doch nach einigen Sekunden ist dennoch etwas zu hören: ein abruptes Rasseln, als würde man Kieselsteine zu Boden fallen lassen. Es hält für ein paar Sekunden an, dann verstummt es.
Begeistert tausche ich mit Kimberly und Chelsey einen Blick aus. Es hat tatsächlich geklappt!
Hinter dem Schaltbrett im Aufzug war keine Pillentüte mehr, stattdessen war der kleine Hohlraum mit rohen Erbsen aus der Vorratskammer vollgestopft, welche sich geräuschvoll auf den Boden ergießen, sobald man ihn öffnet.
Entschlossen drückt Kimberly auf den Knopf am Fahrstuhl, der ihn zu uns hoch ruft.
Ich kann mir schon förmlich vorstellen, wie panisch die Person wird, als sie dort unten die Kontrolle verliert und unaufhörlich nach oben getragen wird. Ihre Drogen verschwunden, das Geheimversteck für aller Augen geöffnet und sie selbst entblößt.
Nach einigem Überlegen, ist uns klar geworden, dass es jemand aus dem Kochteam sein muss.
Wer auch immer es war, konnte jeden Abend ungestört, ohne dass jemand Verdacht schöpft, so tun als müsste er in die Vorratskammer und konnte dabei die Pillen aus dem Versteck holen. Beim Kochen hatte er dann auf einfachste Weise die Möglichkeit, Pillen in Getränke oder Essen zu schmuggeln.
Meine Hand schließt sich in der Tasche um die echte Tüte mit Drogen.
Gleich werden wir heraus finden, wer für all den Schaden verantwortlich ist - wer Olivias, Wills und beinahe Ivys Blut an seinen Hände hat!
Mit einem leisen Grummeln stoppt der Fahrstuhl und wie in Zeitlupe gleiten die Türen vor uns auf.
Ich bin bereit ihm die Tüte vor die Füße zu schleudern, zu beobachten, wie Kimberly auf ihn losgeht und Chelsey ihn zur Rede stellt.
Doch nichts von all dem passiert.
Denn als ich endlich erkenne, wer sich im Inneren des Aufzugs befindet, ist es, als würde sich eine Schlinge um meinen Hals ruckartig zuziehen.
»Ivy?!«
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Strangers with memories
ActionIn Washington werden 40 zu Tode verurteilte Teenager Teil eines Sozialexperimentes: können junge Straftäter wieder ein ganz normaler Leben führen? In dem streng überwachten Haus hat Courtney Adams nicht nur mit guter Führung Schwierigkeiten, sonder...