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Etwa drei Stunden später, sitze ich mit Chelsey im Fahrstuhl, geschützt von Kameras und neugierigen Ohren.
Nachdem Olivia abgeholt wurde, haben einige versucht wieder schlafen zu gehen, doch ich lag nur mit weit geöffneten Augen da und habe die Decke angestarrt.
Immer wieder ging mir durch den Kopf, wie schnell unser Leben hier beendet sein kann und auf was für einer schmalen Grenze wir hier balancieren. In diesem Fall, war es noch nicht einmal Olivias Schuld. Sie hat nicht bewusst gehandelt!
Ja, sie hat versucht mich umzubringen und dieser Gedanke lässt meine Hände noch immer zittern, doch das ändert nichts an der Tatsache, dass es nicht ihre Schuld war.
»Warum Kimberly?«, frage ich, während ich an Chelsey vorbei starre. »Wie kommst du auf sie?«
Meine Augen sind dank des wenigen Schlafs kaum offen zu halten und jede Haltung, die ich im Sitzen einnehme ist unbequem. Noch immer fühle ich mich emotional durchgerüttelt, doch ich darf mir nichts anmerken lassen. Mein Gehirn muss weiter arbeiten.
Für die meisten Jugendlichen bin ich jetzt schon das Mädchen, dass sich bei einem Angriff nicht wehren konnte. Auf keinen Fall will ich jetzt auch noch die Person sein, die über den Tod einer Insassin weint.
»Ich bin mir nicht sicher«, gibt Chelsey zu. Im Gegensatz zu mir scheint sie hellwach und auf Hochtouren. »Aber mein erster Verdacht kam mit der Tatsache, dass sie sich fast jede Nacht aus unserem Zimmer schleicht. Ich kann in den Betten hier nicht gut schlafen, weißt du? Sie sind zu weich im Gegensatz zu dem, was wir in den Zellen hatten. Meistens liege ich also den größten Teil der Nacht wach und bisher habe ich Kimberly immer, wenn sie geglaubt hat, dass alle schlafen, aus dem Zimmer schleichen hören und nach ein oder zwei Stunden zurück kommen hören.«
Kurz zucke ich mit den Schultern, ärgere mich aber gleichzeitig, dass mir dies nie aufgefallen ist. »Das kann vieles bedeuten. Das macht sie noch nicht zur-« Zögerlich halte ich inne.
»-Mörderin?« Chelsey zieht eine Augenbraue hoch. »Du weißt es noch ganz genau, oder? Wir wollten Ivana Mackenzie nur zum Spaß ein wenig mitnehmen, doch Kimberly hatte wohl etwas... Zu viel Spaß. Wir haben ihr gesagt, dass sie aufhören soll, aber sie hat alles erst realisiert, als ihr Opfer aufgehört hat zu schreien - für immer.«
Schweigend mustere ich Chelsey. Manchmal unterschätze ich sie. Ihre Fähigkeit mit Worten umzugehen, an die Psyche eines Menschen zu gelangen, indirekt Tatsachen festzustellen; all das hat sie von Kimberly und mir erlernt.
Sieht so aus, als würde jeder Mensch seine eigenen Monster erschaffen.
»Was vor zwei Jahren passiert ist, muss nichts mit diesem Fall zu tun haben. Jeder in diesem Haus hat etwas in diese Richtung gemacht.«
»Das stimmt«, gibt mein Gegenüber zu. »Aber warum war Kimberly dann so verzweifelt es auf Blake zu schieben, huh? Alle Einwände hat sie direkt zur Seite gewischt, als wäre es ihr wichtiger als alles andere, dass der Verdacht auf Blake fällt.«
Langsam nicke ich. »Blake ist der perfekte Verdächtige. Aber wenn er es tatsächlich gewesen wäre - wenn er Olivia Drogen untergemischt hätte - warum hätte er dann allen sagen sollen, wie es passiert ist? Er hätte sich einfach im Hintergrund halten können und die Leute davon ausgehen lassen, dass sie aus eigener Kraft gehandelt hat.« Allmählich spüre ich, wie ich wacher werde. »Außerdem hat es vielleicht einen Grund, warum Olivia ausgerechnet in unserem Zimmer war. Kimberly und ich hatten schon immer einen ziemlich toxischen Konkurrenzkampf, aber seit wir hier sind, ist es schlimmer als je zuvor. Wenn also irgendein Motiv, außer Chaos, dahinter steckt, dann war es, mich oder dich aus dem Weg zu räumen!«
Chelseys und meine Blicke treffen sich.
Mein Herz schlägt vor Aufregung.
»Unglaublich«, murmle ich.
»Aber es ergibt trotzdem alles irgendwie Sinn, nicht wahr?« Ihre Stimme zittert angespannt, als wäre sie Begeistert von unserer jüngsten Erkenntnis.
»Wenn sie tatsächlich etwas in der Art tut, hätten die Wächter sie doch schon lange aus dem Experiment holen müssen, oder?«, gebe ich noch ein letztes Mal zu bedenken, doch schon im nächsten Moment halte ich inne. »Es sei denn...« Mein Blick schweift umher, über die Wände des Fahrstuhls, wo wir abgeschirmt sind vor jeglicher Überwachung.

In der darauffolgenden Nacht liege ich mit weit geöffneten Augen in meinem Bett und lausche angestrengt.
Kimberly liegt im niederen Teil unseres Stockbetts mir und Chelsey auf der gegenüberliegenden Seite im unteren Bett. Unser Plan ist simpel, aber wir müssen mit äußerster Vorsicht vorgehen; sobald wir hören, dass Kimberly das Zimmer verlässt stehen wir auf und folgen ihr mit genügend Abstand. Höchstwahrscheinlich wird sie uns zum Aufzug führen und dort die Türen hinter sich schließen. Daraufhin werden wir nur noch per Knopfdruck die Türen öffnen, wo sie und ihr Tun direkt wieder sichtbar für die Kameras sind.
Wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich nicht wohl dabei, eine Freundin - oder zumindest ehemalige Freundin - so zu hinter gehen. Natürlich hat sie schreckliches getan, doch bei genauerem Nachdenken befinde ich mich in der selben Position wie Chelsey vor Jahren: Freunde verraten, weil sie etwas unverzeihliches taten.
Auf der anderen Seite könnten wir mit dem Aufdecken von Kimberlys Taten zukünftige Anschläge verhindern.
Ich wäre beinahe umgebracht worden und Olivia wurde inzwischen wohl auch schon eine tödliche Spritze verabreicht.
Gemeinsame Vergangenheit hin oder her - Kimberly muss gestoppt werden!
Unser Zimmer ist inzwischen stockdunkel. Durch wolkige Nächte und fehlende Straßenbeleuchtung vor dem Fenster kann man die Hand vor den eigenen Augen nicht sehen.
Vielleicht ist es nur ein fälschliches Gefühl, aber ich glaube beinahe, dass meine anderen Sinne dadurch geschärft sind.
Ich kann in der Dunkelheit Ivys friedliche Atemzüge ausmachen und immer wieder ist ein leises Rascheln von Chelseys Bettdecke zu hören. Leicht verärgert sehe ich durch die Dunkelheit zu ihr hinüber. Es ist gut zu wissen, dass sie nicht gegen Abmachung eingeschlafen ist, doch wenn sie nicht still hält, wird sich Kimberly niemals sicher genug fühlen das Zimmer zu verlassen.
Nach und nach verliere ich jegliches Zeitgefühl und spüre nur noch, wie mein Körper, mitsamt meinen Augenlidern, immer schwerer wird.
Wie gerne würde ich mir nach den Ereignissen der letzten Tage etwas Entspannung gönnen...
So viel ist geschehen, so viel ging mir durch den Kopf und das innerhalb von kürzester Zeit. Alles was ich möchte ist eine ruhige Nacht.
Im Schlaf kann ich dem Schmerz um Olivias Tod entkommen, sowie der Angst vor einem erneuten Angriff.
Jeder könnte sich jederzeit einfach umdrehen und mir ein Küchenmesser in den Leib stechen. Freund, Feind, tagsüber, mitten in der Nacht...
Dieses Haus macht mich krank.
Gerade als ich drohe zu sehr in meinen eigenen Gedanken zu versinken höre ich es:
Zuerst nur das leise Geräusch einer Bettdecke, die zur Seite geschoben wird, so leise, dass ich mir nicht einmal sicher bin, ob es real wird. Doch schon in der nächsten Sekunde dringt das leise Knarzen des Dielenbodens an mein Ohr, nur wenige Zentimeter entfernt von mir.
Ganz eindeutig - Kimberly ist aufgestanden.
Kurz ist nichts zu hören und ich glaube schemenhaft zu erkennen, dass sie regungslos in der Mitte des Raumes steht.
Als sie sich langsam umsieht wage ich es kaum mich zu rühren. Ich halte die Luft an und es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, bis sie schließlich in Richtung Tür schleicht und durch einen schmalen Spalt aus dem Zimmer schlüpft.
Einige Sekunden ist es, als wäre nichts geschehen. Lautlos zähle ich in meinem Kopf bis zehn und hoffe dass Chelsey dasselbe tut.
...9, 10!‹
Im selben Moment kommt Bewegung in Chelsey und mich. So leise wie möglich, doch gleichzeitig in Eile klettern wir aus unseren Betten, nicken uns kurz zu und folgen dann Kimberlys Beispiel, aus dem Raum zu huschen.
Wir treten gerade noch rechtzeitig auf den Flur, um sie um die Ecke in Richtung Treppenhaus gehen zu sehen.
Ohne uns absprechen zu müssen setzen Chelsey und ich uns in Bewegung und verfolgen sie auf Zehenspitzen. Immer wieder beschleunigen wir unsere Schritte, doch sobald wir an eine Ecke kommen halten wir inne und warten beobachtend ab, wohin Kimberly als nächstes geht.
Keine von uns wagt zu atmen.
Für Chelsey ist es sicher nicht das erste mal, dass sie Angst vor Kimberly hat, doch ich habe nie auf diese Weise gefühlt. Ich kannte sie und ich fürchte nicht was mir bekannt ist. Doch in zwei Jahren getrennter Haft haben wir uns entfremdet und in manchen Momenten bin ich mir nicht mal mehr sicher, ob sie noch der selbe Mensch ist.
Mein Herz rast mit jedem Schritt schneller.
Will ich wirklich sehen, was mir heute Nacht offenbart werden wird?
Meine Vermutung war richtig; wir werden in die Küche geführt und als ich mich mit Chelsey hinter dem Türrahmen verstecke, kann ich beobachten, wie Kimberlys Gestalt in Richtung Fahrstuhl geht.
Offensichtlich fühlt sie sich hier unten sicherer, denn sie gibt sich keinerlei Mühe mehr leise zu sein. Im Gegenteil - ich höre sie leise lachen.
»Musstest du lange warten?«
Ihre gedämpfte Stimme lässt mich zusammen zucken und ich riskiere es, mich ein wenig weiter vorzubeugen.
Kimberly nähert sich einem zweiten Schatten, der bisher reglos vor den Türen des Fahrstuhls gewartet hat. Durch das Dämmerlicht kann ich einen breiten Körper ausmachen, der nun einen Arm an die Hüfte seines Gegenübers legt und das Mädchen an sich heran zieht.
»Wie auf Entzug.«
Mein Atem stockt und ich weiche augenblicklich zurück. Diese raue, tiefe Stimme, die muskulöse Statur... Blake Weston?!
Was tut er hier?
Was tut Kimberly mit ihm?
Chelsey zieht mich am Ärmel wieder sanft nach vorne und wir gehen beide in die Hocke, um ungesehen nach vorne zu kommen. Eine Küchentheke bietet uns Schutz, doch es wirkt als hätten die beiden sowieso nur Augen für einander.
Die Stimmen der beiden sind leiser geworden und es sind nur noch Bruchteile des Gesprächs und leises Lachen zu hören.
So vorsichtig wie möglich hebe ich den Kopf ein Stück aus unserem Versteck. Augenblicklich versucht Chelsey mich zurück zu ziehen, doch ich fange ihr Handgelenk ab und lasse mir den Anblick nicht nehmen:
Kimberly und Blake versinken in einem tiefen Kuss. Ich glaube beobachten zu können, wie seine Hände von ihrer Hüfte aus leicht abrutschen und in ihrem Hosenbund versinken. Energisch wird er daraufhin ein Stück zurück gedrängt, wo Kimberly den Aufzugknopf betätigt, ohne dabei eine Sekunde von ihm abzulassen. Sie steht leicht auf ihren Zehenspitzen und saugt an dem Schlüsselbein ihres Verehrers.
Hinter den beiden gleitet der Fahrstuhl auf und nur wenige Sekunden später sind die beiden eng umschlungen für unsere Augen verschwunden.
Langsam lasse ich mich wieder zu Boden sinken und kann dabei kaum glauben, was ich gerade gesehen habe.
Das also ist Kimberlys Geheimnis. Keine Sabotagen, doch eine geheime Affäre mit einem Kriminellen.

Strangers with memoriesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt