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Ein paar der Umstehenden Jugendlichen sind zusammengezuckt, doch niemand wirkt ernsthaft geschockt. Man kann mit Sicherheit sagen, dass wir alle die Flucht in Erwägung gezogen haben und uns jetzt umso bestätigter in unserer Entscheidung, zu bleiben, fühlen.
Kurz werfe ich einen bedauernden Blick auf die Leiche des Mädchens, dann wende ich mich ab. Ihr musste klar gewesen sein, welches Risiko sie eingeht.
Die Wachmänner lassen sich von dem Ausreißer nicht beirren, sondern verteilen die Zettel mit unseren Zimmernummern. Niemand reagiert groß, sie werfen nur einen kurzen Blick darauf und sehen dann wieder erwartungsvoll du den Wächtern.
Draußen zu sein hat auf einmal das friedliche, freiheitliche verloren. Es fühlt sich eher an, als würde man sich offen und ungeschützt auf einem Kriegsfeld befinden und könnte mit jedem Fehltritt eine Miene in die Luft jagen.
Uns wird ein Signal gegeben und wir gehen hintereinander in Richtung Haustür. Es fühlt sich lächerlich an, als wären wir eine Entenfamilie, doch nach dem Tod des Mädchens ist wohl auch dem letzten bewusst geworden, dass die Männer nicht spielen.
Nach nur wenigen Schritten betrete ich das Haus und befinde mich sofort in einem geräumigen Flur aus Marmor.
Leicht nervös sehe ich mir über die Schulter und mache Platz, damit auch die vier Jungs ebenfalls eintreten. Kaum befindet sich der letzte im Haus, schlägt die Tür zu und wir hören gerade noch wie sich ein Schlüssel herum dreht.
»Und ich dachte der Sinn dieses Projekts ist, dass wir uns nicht mehr wie Gefangene fühlen«, murmle ich bissig.
Ein paar Blicke richten sich auf mich, doch niemand antwortet.
Seufzend streiche ich meine Haare zurück und wende mich von der Haustür ab.
Zu fünft verlassen wir den Flur und befinden uns in einer Art Zwischenraum. Der Boden ist nun aus massivem Holz, genauso wie die Treppen, die nach oben zu führen scheinen. Auf der anderen Seite befinden sich ein paar angelehnte Türen, hinter denen sich Küche, Gemeinschaftsraum und Esszimmer befinden müssen.
Kurz bin ich von Neugierde überwältigt und möchte mich gerade ein wenig umsehen, aber schon im nächsten Moment gehen mir die Anweisungen der Männer wieder durch den Kopf. Wir müssen als erstes in unsere Zimmer gehen und uns umziehen. Zwar steht hier niemand mehr mit Gewehr, doch ich kann förmlich spüren, wie Kameras auf uns gerichtet sind.
Ich beschließe meinen Rundgang auf später zu verschieben und wende mich Richtung Treppe.
Noch einmal werfe ich einen Blick auf den Zettel mit meiner Zimmernummer; 207. Zweiter Stock, siebtes Zimmer. Ich kenne diese Ordnung aus Hotels, in denen ich früher mit meiner Familie war.
Gefolgt von den anderen steige ich die Treppen hoch.
Wir passieren kurz dem Gang in den ersten Stock, in dem sich die ganzen Attraktionen befinden müssen, doch auch hier machen wir nicht Halt, um uns umzusehen.
Schließlich befinde ich mich in meinem Stockwerk.
Die Jungen gehen weiter, ohne sich noch einmal umzusehen und auf einmal befinde ich mich alleine in dem Korridor.
Unruhig mache ich ein paar Schritte nach vorne.
Hinter ein paar der Türen höre ich gedämpfte Stimmen, also sind wir anscheinend nicht der erste Transporter, der hier angekommen ist.
Ohne zu wissen warum, versuche ich mich so geräuschlos wie möglich vorwärts zu bewegen. Vor meinen Augen fliegen die Türen 201, 202, 203 und so weiter vorbei, bis ich schließlich vor meinem Zimmer halt mache.
Die Tür ist nicht ganz geschlossen und ich höre leise Geräusche heraus.
Kurz zögere ich, doch dann schiebe ich den Eingang auf.
Das erste was ich sehe, sind zwei Stockbetten, zwei Kleiderschränke und- ein junges Mädchen, welches sich genau in diesem Moment zu mir umdreht.
Als sie mich sieht lächelt sie schüchtern. »Hey. Bist du eine meiner Zimmernachbarinnen?«
»Ja«, sage ich langsam. »Sieht so aus.«
»Ivy Bennett«, stellt sie sich höflich vor und streckt mir die Hand hin. »Ich hoffe es ist okay, dass ich mir das untere Bett genommen habe.«
»Kein Problem«, antworte ich ausdruckslos und ergreife ihre Hand kurz. »Ich bin Courtney.«
Kurz entsteht eine Stille, in der ich meinen Gegenüber genauer mustere. Sie hat beinahe hüftlange, blonde Haare, doch braune Augen, die denen eines Rehkitz' ähneln. Ihr orangener Overall liegt auf dem Bett neben ihr und sie hat sich bereits ein weißes T-Shirt und Jeans übergestreift - vermutlich aus einem der Kleiderschränke. Sie ist ein wenig jünger als ich, vielleicht 15 - genauso alt wie ich es damals war, als ich ins Gefängnis kam. Trotz des kleinen Altersunterschied ist sie bestimmt 15 Zentimeter kleiner als ich und etwas schmaler gebaut. Sie wirkt gerade zu zerbrechlich.
»Wann bist du hierher gekommen?«, frage ich Ivy schließlich.
Kurz überlegt sie. »Vor etwa 20 Minuten. Ich wurde mit ein paar anderen in einem ähnlichen Transporter her gebracht wie du. Nur gab es bei uns keinen... Zwischenfall.«
Ich hebe den Kopf. »Das hast du gesehen?«
Ivy nickt und deutet auf das Fenster gegenüber der Tür.
Etwas unruhig wende ich den Blick von meiner Zimmernachbarin ab und trete an die Glasscheibe. Tatsächlich hat man einen guten Blick auf den Bereich vor der Haustür und vermutlich kann ich in wenigen Minuten den nächsten Wagen kommen sehen.
»Beängstigend, oder?«, höre ich Ivys Stimme hinter mir. »Zu sehen wie schnell ein Leben beendet werden kann. Wie viel Kontrolle diese Wachen über uns haben.«
Ihre Stimme zittert ein wenig und als ich mich umdrehe, wendet sie sich sofort beschämt ab.
Mit einem Hauch Neugierde sehe ich sie an. Ihre Offenheit überrascht mich und ich kann nicht sagen, ob es nicht um Mut oder Naivität handelt. Alles an ihr wirkt so rein und unschuldig. Ich würde viel dafür geben, zu wissen warum sie hier ist.
»Ja, schon ein wenig«, sage ich langsam.
Ivy scheint ihre Emotionalität ein wenig unangenehm zu sein, denn sie streicht ihre Haare etwas zittrig hinter ihr Ohr und wechselt das Thema: »Möchtest du dich umziehen? In den Schränken sind Klamotten und bestimmt ist auch irgendwo deine Größe dabei.«
Ich sehe an mir herunter. Es ist unmöglich zu sagen, wie sehr ich mich umziehen möchte und diesen orangenen Albtraum loswerden will.
Entschlossen trete ich vom Fenster weg und wende mich an einer der Kleiderschränke. Hinter den Türen finde ich nicht unbedingt die Designerklamotten, die ich aus Manhatten gewohnt war, doch in diesem Moment bin ich dankbar für alles, was eine andere Farbe hat, als das Outfit, welches ich die letzten zwei Jahre lang getragen habe. Die Oberteile sind alle einfarbig und sind entweder ein Kapuzenpulli oder ein T-Shirt und in einem unteren Fach liegen mehrere Jeans.
Nach kurzem Zögern ziehe ich mir ein dunkelblaues Shirt und eine Hose in meiner Größe heraus.
»Brauchst du Hilfe mit dem Reißverschluss?« Ivy deutet auf den Rücken meiner Overalls. Ich bin schon kurz davor aus Reflex abzulehnen, doch dann halte ich inne. Sie lächelt mich freundlich an, ohne Hintergedanken, einfach nur Nettigkeit. Es ist sehr lange her, dass mir dies das letzte mal begegnet ist.
»Ja, bitte«, sage ich schließlich und ziehe all meine halblangen Haare auf meine Seite, damit sie nicht eingeklemmt werden.
Meine kleine Helferin springt eifrig von ihrem Bett auf und läuft zu mir hinüber. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sie sich auf die Zehenspitzen stellen muss, um den oberen Rand des Overalls richtig zu erreichen. Für den Bruchteil einer Sekunde, habe ich tatsächlich so etwas wie ein kleines Lächeln auf den Lippen.
»Dankeschön«, sage ich leise und streife das Kleidungsstück ab.
Es fühlt sich gut an wieder Jeans und T-Shirt tragen zu können. Noch ist es ein wenig ungewohnt, doch zumindest habe ich das Gefühl den ständigen Geruch des Verbrechens damit abgelegt zu haben. Ein Stück meines Menschendaseins wird mir zurück gegeben.
»Fühlt sich gut an, oder?« Ivys Augen glänzen, als ich mich wieder zu ihr umdrehe.
»Fremd«, kommentiere ich schlicht.
»Das sollte es nicht sein«, entgegnet sie mit einem Hauch Trauer in der Stimme. »Du wirst dich wieder daran gewöhnen.«
»Hoffentlich für längere Zeit.« Meine Anspielung auf den Erfolg des Experiments macht mich selbst ein klein wenig nervös. In unseren Verträgen ist festgehalten, dass wir nicht über das Gefängnis, unsere Straftaten oder über das Projekt selbst reden dürfen. Die Grenze ist ziemlich verschwommen und ich kann nur hoffen, dass die Wachen nicht zwei Teilnehmer an einem Tag umbringen möchten.
Ich verberge meine Angst und mache ein paar Schritte in Richtung Tür. »Wir dürfen uns jetzt umsehen, oder? Ich glaube, ich mache mal eine kleine Rundtour.«
»Warte!« Rasch steht Ivy auf. »Möchtest du nicht noch auf unsere anderen Zimmernachbarinen warten?«
Kurz ziehe ich eine Augenbraue hoch, woraufhin sie nur auf die beiden leeren Betten deutet: »Ich bin mir sicher sie werden mit den nächsten Transportern kommen. Es wäre doch nett sie begrüßen zu können.«
Ich muss verbergen, dass ich tatsächlich ein wenig amüsiert bin. Wer hätte gedacht, dass jemand in diesem Haus tatsächlich derart süß ist?
»Lass uns noch zehn Minuten warten«, bittet sie mich. »Und wenn sie dann noch nicht da sind, komme ich mit dir und wir erkunden gemeinsam die Räume.«
»Okay, von mir aus«, antworte ich mit einem kleinen Seufzen. Augenblicklich breitet sich ein erfreutes Strahlen auf Ivys Gesicht aus. Nach ihrer Zeit im Gefängnis scheint sie jetzt wohl jede Kleinigkeit wertschätzen zu können, doch ich bin mir sicher, dass ihr Verhalten nicht nur daher kommt. Ohne Zweifel war sie schon vor ihrem Urteil ein lebensfroher Mensch.
Tatsächlich müssen wir keine zehn Minuten warten, denn schon innerhalb der nächsten Sekunden können wir durchs Fenster einen neuen Transporter anrollen sehen.
Stumm beobachte ich, wie sie aussteigen - ob vielleicht auch einer von ihnen ausreißen will. Doch alles verläuft geordnet.
Unser Fenster ist zu weit oben, um etwas klar erkennen zu können, doch schon nach wenigen Sekunden werden den Jugendlichen die Zettel mit ihren Zimmernummern ausgehändigt und schließlich leiten die Schritte der Sträflinge sie in Richtung Haustür.
Ivy wirkt geradezu aufgeregt, wer als nächstes durch die Tür treten wird und ich hoffe inständig, dass ihr Gutglauben ihr nicht zum Verhängnis werden wird.
Nur wenige Minuten später hören wir Schritte vor der Tür. Es handelt sich um mehrere Personen - anscheinend waren in dem Transporter mehr Mädchen als in meinem.
Unbeeindruckt beobachte ich von meinem Bett aus die Tür.
Wahrscheinlich wird sowieso niemand herein kommen. Die Leute können genauso gut in einem der anderen Zimmer sein.
Doch tatsächlich wird kurz darauf die Zimmertür aufgeschoben und zwei Mädchen werden sichtbar.
Ich höre kaum, wie Ivy die beiden erfreut begrüßt und sich vorstellt, denn mir fällt augenblicklich die Kinnlade runter.
Meine Zimmernachbarinen sind meine ehemaligen besten Freundinnen - mit denen ich einen Mord begangen habe.

Strangers with memoriesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt