Kapitel 5

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Im ersten Moment wusste Angelie nicht was sie aufgeweckt hatte.
Verschlafen streckte sie sich, verschloss die Augen vor der hellen Sonne, fluchte leise vor sich hin.
Wie spät mochte es sein?
Vormittag, Mittag, Nachmittag?
Sie wusste es nicht.
Am siebten Januar, dem Tag nach dem kunterbunten Wahnsinn hielt sie ihren Laden immer geschlossen, es kam nämlich sowieso niemand aus ihren Häusern. Sie waren alle viel zu verkatert.
Mit einem halblauten Grummeln setzte sie sich schließlich auf, fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht, atmete tief durch.
Nun gut, jetzt wo sie wach war konnte sie auch gleich aufstehen, frühstücken und sich dann mit ihrem neuen Buch beschäftigen – vorausgesetzt sie würde ihr kleines Tintenfass finden.
Mit aller Kraft die sie aufwenden konnte stemmte sie sich in die Höhe, streckte sich automatisch bis ihre Gelenke knackend, gähnte ausgiebig.
Plötzlich klirrte es in ihrem Wohnbereich und sie zuckte alarmiert zusammen.
Das musste sie geweckt haben – ein Eindringling.
Sein Pech, dass man in ihrer Wohnung nicht viel hohlen konnte...
Hastig sah sie sich in ihrem Schlafzimmer nach einer Waffe um, konnte jedoch keine finden.
Merde, sie musste noch im Laden liegen...
Kurzentschlossen griff sie sich ein relativ schweres Buch, das auf einem kleinen Tischchen neben ihrem Bett lag, strich sich die unordentlichen Haare aus dem Gesicht, kümmerte sich nicht darum, dass sie nur ihr schwarzes Nachthemd trug.
Leise schlich sie zu der Tür ihres kleinen Schlafzimmers, drückte vorsichtig die Klinke hinunter, war froh, dass sie die Scharniere erst vor kurzem hatte ölen lasen.
Geräuschlos schwang die Tür auf, offenbarte ihr zuerst den Blick auf ihre kleine Küche.
Schränke standen offen und nun hörte sie deutlich Schritte in ihrem Wohnbereich.
Leichtfüßig trat sie aus der Tür, schlich an der Wand entlang zum offenen Rest der Wohnung.
Gleichzeitig näherten von dort sich auch die Schritte des Eindringlings und sie hob das Buch angriffsbereit in die Höhe.
Ihr Herz pochte wild, aber sie hatte schon schlimmeres überstanden, ignorierte es schlichtweg. Sie wusste, dass der einzige Grund für ihre Angst der Umstand war, dass sie keine richtige Waffe in Händen hielt.
Fast gleichzeitig mit dem Eindringling erreichte sie die Ecke und sobald er ebendiese umrundete, zögerte sie nicht eine Sekunde länger und schlug mit dem Buch zu.
Der überraschte Schwarzhaarige taumelte durch den gelungenen Treffer auf den Kopf etwas zurück, verlor das Gleichgewicht und landete unsanft auf dem Hosenboden.
„Mon dieu...Ich wünsche dir auch einen guten Morgen, Angelie..."
„Clopin! Was, in aller Gottes Namen, machst du in meiner Wohnung?", stöhnte sie und er warf ihr vom Boden aus einen verschmitzten Blick zu, rieb sich gleichzeitig den schmerzenden Schädel.
„Petit déjeuner, mademoiselle", antwortete er und nickte zu ihrem Tisch, auf dem tatsächlich Teller, Becher, sowie ein paar Croissants und Baguette platziert waren.
„Que...mais...warum?", stammelte sie und er lachte amüsiert, stand langsam wieder auf.
„Ich wollte sicher gehen, dass du genügend gestärkt bist, bevor wir aufbrechen", meinte er und sie sah ihn schockiert an.
Aufbrechen?
Wovon redete er?
Hatte sie etwas vergessen?
Clopin konnte ihrem Gesicht ablesen, dass sie nicht verstand was vor sich ging und das amüsierte ihn.
Allein dafür war er fast bereit den Schlag auf den Kopf zu vergessen.
„Tien...ich dachte mir, nachdem der Tag gestern ein wenig aus dem Ruder lief, könnte ich mit einem kleinen Ausflug ein paar Missverständnisse und Fragen aus dem Weg räumen", meinte er, wusste, dass er mit den Worten „Missverständnisse" und „Fragen" sie nur erneut verunsicherte.
Angelie runzelte angespannt die Stirn, dachte hektisch nach.
Was genau wollte Clopin von ihr?
Sie wusste nicht ob sie ihm vertrauen konnte, sie kannte ihn kaum.
Noch dazu war er irgendwie in ihre Wohnung gekommen – zum zweiten Mal.
Aber noch am Vortag hatte sie sich selbst gesagt, dass sie ihm eine Chance geben sollte...
Forschend erwiderte sie den abwartenden Blick seiner dunklen Augen, suchte nach einem Anzeichen einer bösen Absicht, eines tiefen Abgrundes – aber sie fand keinen.
Jedenfalls keinen der ihr Angst einjagte.
„Bien...was für ein Ausflug ist das?", seufzte sie und er schlug begeistert die Hände zusammen, strahlte sie an.
„Oh, ein ganz Besonderer! Und am besten ziehst du so etwas Ähnliches wie gestern an, weil ich bezweifle stark, dass du nur im Nachthemd vor die Tür gehst, oder?"
Erst als er diese Worte aussprach wurde ihr überhaupt bewusst, dass sie nur ihr Nachthemd trug und beinahe hätte sie erneut das Buch nach ihm geworfen – einfach für den Umstand, dass er sie nicht sofort darauf hingewiesen hatte.
Jedoch beließ sie es bei einem wüsten Fluch und stampfte zurück in ihr Schlafzimmer, während Clopin ihr feixend hinterher sah.
Persönlich hätte er natürlich nichts dagegen gehabt wenn sie nur im Nachthemd geblieben wäre, aber dann hätte er sie auch nicht auf die Pariser Straßen lassen können.
Die Zimmertür schlug krachend zu und mit einem breiten Grinsen richtete Clopin seinen Hut, strich den imaginären Staub von den Kleidern.
Er hatte sein farbenfrohes Kostüm gegen seine unauffälligereren Straßenkleider getauscht, auch seine Maske hatte er in seinem Zelt im Hof der Wunder zurückgelassen.
Zum großen Missfallen seines kleinen Kameraden auch die Handpuppe, die er sonst immer mit sich mitnahm.
Aber er war sich ziemlich sicher, dass Klein-Clopin heute nur für Ärger sorgen würde, jedenfalls hatte der Kleine das immer angekündigt, bevor er sich dazu entschlossen hatte, ihn im Hof zurück zu lassen.
Und Clopin Trouillefou wollte diesen Tag sinnvoll nutzen und Angelie besser kennenlernen. Und vielleicht hatte er ja heute Abend Glück – wenn nicht, dann sollte es wohl nicht sein.
Aber das Glück war mit den Mutigen und er war schon fast zu mutig, leichtsinnig würden einige sagen. Folglich musste er der größte Glückspilz der Stadt sein.
Mit einem amüsierten Schnauben wandte er sich dem Tisch zu, entschied dort auf Angelie zu warten.
Sitzen war folglich bequemer als stehen.
Er ließ sich auf einem der Stühle nieder, verschränkte die Füße und pfiff leise eines der Lieder nach, das gestern am kunterbunten Tag gesungen worden war.
Clopin hoffte nur, dass Angelie nicht wie manch andere Frau Stunden benötigte um sich herzurichten.
Immerhin wusste er nicht, wie lange ihre Reisemöglichkeiten unentdeckt und ungestohlen blieben...
Natürlich wäre es keiner seiner Leute – sie kannten sein Eigentum zu gut um sich daran zu vergreifen – aber auf die anderen Einwohner in Paris konnte man sich nicht verlassen.
Sie stahlen genauso oft, wenn nicht sogar öfter, wie sie Zigeuner des Diebstahles beschuldigt wurden, unschuldig noch dazu.
Seitdem er das Ruder in die Hand genommen hatte, waren die Überfälle von Zigeunern gegen Null gesunken – was nicht bedeuten sollte, dass man davor oft gestohlen hatte, im Gegenteil.
Er wollte nur Frollo keinen handfesten Grund geben seine Leute zu verhaften, zu foltern und letztendlich zu töten.
Und bisher sprach der Erfolg für sich...
Aber nach Esmeraldas Fehltritt konnte sich alles ändern.
Wenn er ehrlich war, diente dieser Ausflug nicht nur dazu Angelie näher kennen zu lernen, sondern insgeheim der Ausspähung eines neuen Weges um seine Leute aus der Stadt und damit in Sicherheit zu bringen.
Er atmete tief durch, fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und starrte an die Decke.
Clopin hoffte nur, dass er diese Wege so schnell nicht benötigen würde, dass Frollos Zorn sich bald wieder legen würde, dass Esmeralda es schaffte diesem wahnsinnigen Richter zu entkommen und dass der Hof der Wunder weiterhin ein sicherer Hafen bleiben würde.
Aber er musste vorbereitet sein, sollten seine Hoffnungen nicht erfüllt werden...
Das Klicken eines Türschlosses brachte ihn aus seinen düsteren Gedanken und er nahm hastig den Blick von der Decke.
Angelie hatte den Wohnraum betreten, trug dieselbe Hose vom Vortag, diesmal ein weißes Hemd darüber und erneut schwarze Stiefel. Die leicht gewellten Haare hatte sie offen gelassen, strich sich die längsten Strähnen hinter die Ohren.
Eine natürliche Schönheit mit den Rundungen an den richtigen Stellen, auch wenn das Hemd einiges davon verdeckte. Er konnte ehrlich nicht verstehen, warum die Männer bei ihr nicht Schlange standen...
Obwohl, wenn sie Überraschungsgäste immer mit Büchern schlug, konnte er es doch verstehen.
Sie wirkte noch immer verschlafen, aber es war nicht so schlimm, dass er davon ausgehen konnte, dass sie unterwegs einschlief.
Mit einem schweren Seufzer ließ sie sich auf einen Stuhl neben ihm fallen und fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht.
Ganz offensichtlich ein Morgenmuffel...
Mit einem sympathisierenden Lächeln reichte er ihr eins der Croissants die er mitgebracht hatte.
„Bon appétit..."

Tales of a gypsy and a fox  - BeginningsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt