Kapitel 10

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Endlich entzündeten sich auch die kleinen trockenen Äste die sie gesammelt hatte. Ihr Knistern war wie Musik in Angelies Ohren, bedeutete es ja auch, dass sie die Nacht nicht frieren würde.
Sie saß auf einer kleinen Lichtung, nicht weit vom Waldrand und von der Stadt entfernt, aber so gut geschützt, dass man sie nicht einfach finden konnte.
Angelie atmete tief durch, wickelte sich mehr in die grobe Wolldecke, die sie im noch immer bestehenden und noch immer verlassenen Lager der Wegelagerer gefunden hatte.
Dieses Lager war ihr Anlaufpunkt gewesen.
Sie hatte etwas alten aber starken Schnaps gefunden mit dem sie ihre Wunde etwas ausgewaschen hatte, halbwegs saubere Tücher die sie für einen sehr unprofessionellen Verband benutzt hatte, sowie Decken, Feuersteine und Wasser. Leider war das Wasser nicht mehr genießbar gewesen, aber es hatte doch noch einen Zweck erfüllt, als sie damit das noch nicht getrocknete Blut auf dem Fell der Schimmelstute wusch.
Sie hatte sich auch ihres blutbesudelten Kleides entledigt und eine dreckige Stoffhose angezogen, darüber ein langärmliges, stinkendes graues Hemd, dass ihr mindestens eine Nummer zu groß war.
Das Banditenlager war jedoch nicht sicher genug um dort die Nacht zu verbringen, also hatte sie sich auf die Suche gemacht und letztendlich diese Lichtung gefunden.
Nachdem dort nun auch endlich ein kleines Feuer brannte, konnte sie zum ersten Mal wirklich durchatmen.
Selbst der Schmerz in ihrem Arm hatte nachgelassen.
Aber was sollte sie jetzt nur machen?
Um an Geld zu kommen, musste sie nur ihren Anteil an den versteckten Wertgegenständen einpacken, damit würde sie es sicherlich in die nächste Stadt schaffen.
Sie hoffte auch, dass Clopin verstand, wenn sie Luminosité behielt. Jetzt gab es sowieso keine Möglichkeit mehr die Stute zu ihm zurück zu schicken.
Aber in welche Richtung sollte sie sich bewegen?
Eher nach Süd-Westen, vielleicht bis Nantes oder gegen Norden, bis Reims?
Reims würde näher liegen, wäre somit mit weniger Vermögensverlust zu erreichen. Jedoch konnte diese Nähe auch verhängnisvoll werden, sollte sich der unheilvolle Machtbereich von Frollo auf das Umland ausweiten.
Eindeutig sicherer war es, wenn sie sich nach Nantes wandte, sparsam reiste und dann in der Stadt auf einen schnellen Geldverdienst hoffte.
Sie schreckte aus ihren Gedanken auf, als sich dumpfes Stimmengemurmel näherte. Wenn sie schätzen musste, würde sie auf vier oder fünf Personen tippen.
Die Geräusche kamen näher, zwangen sie aufzustehen.
Sollten es Soldaten sein, musste sie so schnell wie möglich Luminosité erreichen, die etwas außerhalb der Lichtung angebunden war.
Den dafür nötigen Strick hatte Angelie ebenfalls aus dem Lager.
Sie verließ die Lichtung, schlich an der Stute vorbei und erspähte keine drei Schritte später eine Gruppe von sieben Leuten, bestückt mit schwachen Laternen.
Sie schienen einem Trampelpfad zu folgen, gingen hintereinander, wobei sich die kleinsten von ihnen – Kinder, keine Frage – an den Händen hielten um nicht verloren zu gehen.
An der Spitze ging ein Mann, dessen Hut sie überall wieder erkennen würde – Clopin Trouillefou.
Plötzlich blieb er stehen, sah sich prüfend um.
Angelie war sich nicht sicher, ob er ihre Umrisse in der Dunkelheit gesehen hatte, aber selbst wenn, dann schien er sich davon nicht stören zu lassen.
„Nun gut..."
Seine Stimme war leise, aber kräftig, ein befehlsgewohnter Unterton begleitete seine Worte, als er sich an die anderen sechs Menschen wandte.
„Von hier an müsst ihr dem Pfad noch ein wenig folgen, dann erreicht ihr die Hauptstraße. Die nächste Ortschaft liegt einen Tagesmarsch entfernt, wenn ihr sie erreicht habt, fragt im Gasthaus nach Jean Amical, er wird euch dann weiterhelfen. Habt ihr das verstanden?"
Zustimmendes Gemurmel wurde laut und Clopin atmete tief durch, reichte einem der Fliehenden die Hand.
„Seid vorsichtig und mögen eure Wege stets von Freude begleitet sein, mon ami", murmelte er auf eine unverständliche Verabschiedung, dann zwängten sich die sechs Flüchtigen an ihm vorbei.
Angelie fand es am schlauesten, sich jetzt wieder zurück zu ziehen.
Sie schlich wieder an der Stute vorbei und ließ sich dann erneut neben dem kleinen Feuer nieder. Um es weiterhin am brennen zu halten warf sie ein paar trockene Zweige darauf.
Immerhin wusste sie nun, dass Clopin bis jetzt den Fängen Frollos entkommen war und dass er half andere zu retten.
Und sie war zuversichtlich, dass sich Clopin nicht schnappen lassen würde – dafür schien er viel zu schlau zu sein.
Aber andererseits – was wusste sie schon wirklich über ihn...Außer dass seine Mutter Blumen gezeichnet hatte, Lila seine Lieblingsfarbe war, dass er nur zwei Kostüme besaß, dass er charmant war, dass er Humor hatte, dass er kämpfen und tanzen konnte, dass er sich um seine Mitmenschen kümmerte, dass er albern und ernst sein konnte, dass er Tricks auf Lager hatte, von denen sie nur träumen konnte...
Nun gut, ein wenig wusste sie schon über ihn Bescheid...
„Quelle surprise...mit dir hätte ich hier nicht gerechnet, Angelie."
Sie wandte sich halb um, warf Clopin kurz einen müden Blick zu, als er auf die Lichtung trat.
„Etwas dagegen, wenn ich mich zu dir setzte?"
Angelie schüttelte leicht den Kopf, richtete den Blick wieder auf die tänzelnden Flammen.
Wie hatte sie auch davon ausgehen können, dass er sie übersehen hätte?
Mit einem schweren Seufzer ließ Clopin sich neben ihr nieder, stützte sich mit den Armen ab, als er sich leicht zurücklehnte.
Nun warf sie ihm doch einen kurzen Seitenblick zu, bemerkte die Schatten unter seinen Augen, die Müdigkeit die in seinem Blick stand, sowie der Dreck, der sich in seiner Kleidung festgesogen hatte.
Alles in allem sah er so aus, wie sie sich fühlte – geschlagen und am Ende ihrer Kräfte.
„Nun...was machst du hier draußen?"
Seine Stimme war ruhig, aber sie konnte dennoch den leisen Funken Sorge in ihr erkennen.
„Planen wo ich als nächstes hingehe", antwortete sie ehrlich und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Du gehst fort?"
Der Zigeuner richtete sich sofort wieder auf, musterte die junge Frau fassungslos.
„Ich muss...Man hat meine Wohnung durchsucht und deine Notiz gefunden. Es...ich...ich konnte gerade noch entkommen...", murmelte sie und im nächsten Moment lag ein schlanker aber kräftiger Arm um ihren Schultern, hielt zum Glück ihren rechten Oberarm fest.
„Dir geht es aber soweit gut, oder?", wollte er nun offensichtlich besorgt wissen und sie nickte zögerlich.
Sie konnte ihn jetzt nicht mit ihren Problemen belasten, er schien schon genug zu haben.
„Mit mir ist alles in Ordnung", seufzte sie und starrte wieder in die Flammen.
„Ich hab mir überlegt nach Nantes zu gehen. Mit etwas Glück kann ich dort irgendwo einen Dienstberuf bei einer Adelsfamilie annehmen..."
Sie verstummte und unterdrückte ein Gähnen, ebenso wie die Tränen, die sich in ihren Augen sammeln wollten.
Sie musste stark bleiben, sie durfte sich keine Schwäche erlauben. Wer Schwach war, hatte verloren...
„Natürlich könntest du nach Nantes...du könntest aber auch zu uns kommen", meinte Clopin plötzlich nachdenklich und sie hob erneut den Blick.
„Wie meinst du das?"
„Nun, der Hof der Wunder steht jedem offen, der Hilfe benötigt und es ist mehr als sicher, dass Frollo ihn niemals finden wird. Natürlich musst du nicht für immer bleiben, aber du hättest mehr Zeit alles zu überdenken, zu planen, wenn du verstehst was ich meine?"
Sie nickte schwach, dachte nach.
Der sagenumwobene Hof der Wunder.
Es war das Versteck aller Zigeuner, unentdeckt seit vielen Jahren.
„Aber werden die anderen dort mich nicht wieder rauswerfen? Ich bin keine Zigeunerin und außer dir habe ich auch keine Kontakte zu ihnen...habt ihr nicht auch so etwas wie einen König? Was, wenn er mich nicht duldet?", sprach sie ihre Bedenken aus und zu ihren großen Erstaunen fing Clopin an zu glucksen.
„Nun, Angelie, wie schon gesagt – der Hof steht für jeden offen der Hilfe braucht, nicht nur für Zigeuner. Und was den König angeht...ich denke er ist jederzeit bereit dich aufzunehmen, sonst sei sein Name nicht länger Clopin Trouillefou", verkündete er und Angelie blinzelte überfordert, benötigte kurz um die Information zu verarbeiten.
„Du...du bist der König der Zigeuner?"
„So kann man es sagen...Mein Vater war der erste Zigeunerkönig in Paris aus unserer Familie, als er vor knapp zwanzig Jahren gefangen genommen und gehängt wurde habe ich diesen Posten übernommen, wobei dieser Stand mehr Probleme als Vorteile mit sich bringt", erzählte er und Angelie atmete tief durch.
„Das kann ich mir gut vorstellen..."
„Also...was meinst du? Bleibst du noch etwas im Hof der Wunder oder machst du dich auf ins Blaue?"
„Wenn ich wirklich keine Umstände mache..."
„Pas du tout, Angelie! Du könntest nie für Umstände sorgen", versicherte er und sie schenkte ihm ein müdes Lächeln.
„Merci beaucoup, Clopin..."
„De rien. Aber wir sollten wohl versuchen etwas zu schlafen, bevor wir morgen in die Stadt zurück kehren – jetzt wäre es zu riskant."
Angelie nickte nur und warf erneut etwas Holz auf das kleine Lagerfeuer.

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