Carla, die Köchin

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Ein Sonnenstrahl fiel durch die Dachluke und erleuchtete Carlas rechten großen Zehennagel: Höchste Zeit, aufzustehen.

Ihre jüngeren Geschwister schliefen noch im Schatten, fünf ruhig atmende Deckenberge. Auch im Kastenbett war es noch still. Am Vorabend waren Bauleute durchgezogen, auf dem Weg nach Süden, und die Schänke hatte bis spät in die Nacht Geschäft gemacht. Die Eltern sollten ruhig noch schlafen; für den einen Gast konnte Carla alleine sorgen. Vormittags war hier oben sonst mit niemandem zu rechnen.

Hinter dem Krankenvorhang raschelte es leise.

Sie stieg mit leisen Füßen über die Beine der Kleinen hinweg, warf einen Blick in die Waschschüssel und schüttelte den Kopf. Nach einer Abendwäsche für die ganze Familie war das Wasser für nichts mehr zu gebrauchen. Sie zog den Stöpsel, und das Wasser rann durch eine kleine Röhre durch die Wand und in die Regenrinne: Das hatte Diotis ihnen gebastelt, als sie hier gewesen war. Früher hatten sie die Schüssel zur Dachluke hinaufwuchten und das Wasser über die Schindeln kippen müssen.

Die zweite Röhre, die ihnen Diotis gelegt hatte, war leider schon verstopft: Sie führte von der Zisterne auf dem Dach herab und endete in einem kleinen Hahn, den man aufschrauben konnte, direkt über der Waschschüssel. Für wenige Tage nach der Abreise der Mädchen aus Marmaria hatten sie dort nur schrauben müssen und sofort frisches Wasser bekommen; dann war irgendetwas in die Dachröhre geraten und blockierte seither den Zufluss, ohne dass irgendjemand von ihnen in der Lage war, ihn wieder freizustochern.

Aber es schadete nichts. Carla stieg gerne jeden Morgen zur Zisterne hinauf. Wenn sie nur herinnen blieb, im Dachschatten, hatte sie den ganzen Tag über das Gefühl, als wäre sie gar nicht richtig aufgewacht.

Sie hängte sich die großen Wasserschläuche um, einen an jede Schulter, und kletterte über die Leiter auf das Dach. Die Sonne war gerade erst über den Horizont gestiegen und würde binnen kurzer Zeit wieder hinter dem Wolkenberg verschwinden, der sich von Kuprion her über das Land schob. Zu Mittag spätestens, mutmaßte Carla, würde die Wetterfront Arenion erreicht haben; sie mussten rechtzeitig die Luke abdichten.

In der Zirkelstadt unter ihr war es noch dunkel; das Licht erreichte nur die höchste Spitze des äußersten Kreises, den letzten Überrest der obersten Tribünen, von denen aus der Tyrann und seine Zeitgenossen zugesehen hatten, wie Tiere und Menschen einander dort, wo jetzt der Marktplatz lag, zur Erheiterung des Publikums zerfleischt hatten. Seitdem war viel Zeit vergangen, die Sitzreihen waren zu Wohnhäusern umgebaut, die Wälle teils zerlegt und als Baumaterial benutzt worden, teils aber auch unter der Last darauf aufgesetzter Bauwerke zusammengebrochen; nur die Säulenwand, auf deren Zinnen die Schänke ihrer Eltern stand, hatte bis zum heutigen Tag gehalten und würde dies hoffentlich auch noch für länger tun. Reisende kamen gern hierher, weil man von hier die Stadt und die Umgebung überblicken konnte wie von keinem anderen Ort, das Wetter und die Wege abschätzen oder auch nur die Aussicht genießen; aber auch Einheimische, die dem Lärm der inneren Kreise entfliehen wollten, setzten sich manchmal für den Nachmittag auf ihre windige Terrasse. Es war ein rauer Ort, aber ein schöner.

Carla tauchte die beiden Schläuche in das Becken, bis sie voll waren, hängte sie sich überkreuz wieder um den Leib und machte sich an den Abstieg. Vorsichtig, um niemanden zu wecken, tappte sie zwischen den Betten hindurch. Eines der Kleinen seufzte in bösen Träumen; sie strich ihm mit einer feuchten Hand über die Stirn, dass es sich auf die Seite drehte und still weiterschlief. Das Geplätscher des Wassers in der Waschschüssel sorgte für einiges verschlafenes Rumoren, aber niemand beklagte sich, während sie sich wusch und einige der Lappen anfeuchtete, die von dem nutzlosen Wasserhahn herunterhingen.

Mit den Lappen in der Hand schlängelte sie sich um den Dachträger herum, stieg über das lose Brett im Boden und drückte sich hinter den Krankenvorhang. „Guten Morgen, Dion“, flüsterte sie.

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