Die Überfahrt (2)

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Im Aussichtsraum der Anemone herrscht gespannte Stille. Durch die Schotten hört man den Kapitän und seinen Steuermann gedämpft darüber fluchen, dass man in der Nebelsuppe nichts sieht und sie am Ende noch an der Bromelia vorbeifahren werden, ohne den geplanten historischen Handschlag durchgeführt zu haben. Alle neun Passagiere starren durch die großen Glasfenster auf die vorbeidriftenden Wolkenfetzen und machen sich ihre eigenen Gedanken. Der Chronist überlegt, als welche Art von Vorzeichen oder Symbol es zu deuten wäre, dass sie die Natur ausgerechnet auf derjenigen Fahrt zu blenden beschlossen hat, die das größte Zeugnis von menschlicher Neugier und Durchsetzungskraft in der Geschichte der Zwei Inseln ablegt. Der Zeichner experimentiert auf der Rückseite eines Skizzenblatts mit Pigmentspänen und tintenbeklecksten Fingern, um die beste Wischtechnik für die Darstellung von Nebelszenen zu ermiteln. Anachora sorgt sich; Niobe staunt über die Mengen an Wasserdampf, die sich hier dicht gedrängt über den Fluss wälzen; Zakynthia fühlt sich um die versprochene schöne Aussicht betrogen; Diotis malt sich aus, wie die Welt hinter den Nebelwänden aussehen wird, die wahre Welt hinter der Illusion der materiellen; und Rhea lauscht. Irgendetwas an den Geräuschen, die aus dem Schiffsbauch heraufdringen, klingt falsch und gleichzeitig bekannt.

Ein Knirschen, ein Scharren. Scharfe Zähne, die Metall abspanen. Die kleinste der schwimmenden Inseln, auf der ihr Onkel die gefährlichsten Tiere aufbewahrt.

„Eisenbeißer!“, ruft sie aus, springt auf und deutet auf Zakynthia. „Eisenbeißer fressen das Schiff!“

Eisenbeißer – kleine, drahtige Nager, die zum Schärfen ihrer Zähne Metall jeder Art anknabbern und mit beunruhigender Geschwindigkeit zerspanen – sind mit Abstand die gefürchtetste Tierart Marmarias. Bevor die Marmarianer begannen, Waffen, Fahrzeuge und Gebäude aus Metall zu fertigen, waren sie ebenso harmlos wie unbekannt, sie hielten sich hauptsächlich in den tiefen Höhlen auf und fraßen sich dort durch die Erzadern. Mit der Industrialisierung wurden sie urplötzlich zur Plage und wie besessen gejagt, aber in den engen vulkanischen Tunneln weit unter der Stadt gab es immer noch einige Nester, die überlebten.

Rhea ist vielleicht die einzige, der die kleinen Biester immer schon irgendwie sympathisch waren, seit Onkel Kaon ihr davon erzählt hat, wie sie früher regelmäßig Fabriken und Türme zum Einsturz gebracht haben. Kaon, der Tiersammler, hat ein kleines Rudel von Eisenbeißern auf einer eigenen schwimmenden Insel gefangen; da die Tiere sich vor Wasser fürchten, können sie dort keinen Schaden anrichten. Rhea hat ihnen immer wieder Metallschrott vom Lagerplatz vor der Stadt gebracht und mit kindlicher Begeisterung dabei zugesehen, wie sie sich innerhalb weniger Minuten durch die härtesten Rohre gebissen haben.

Onkel Kaon hat auch ein altes Grammophon, das er immer mit sich führt, wenn er die Eisenbeißer besuchen geht. Die Tiere sind sonst sehr eigensinnig, aber es gibt bestimmte Klänge, die sie unweigerlich anlocken und streichelweich machen wie Kätzchen, denen man Baldrian anbietet. Deshalb deutet Rhea in diesem Moment mit ausgestrecktem Arm auf Zakynthia, die gar nicht weiß, wie ihr geschieht, und ruft: „Geige! Pack deine Geige aus und spiel!“

Eine Geschichte für die Ewigkeit! Der Chronist ringt nach Worten, nach Vergleichen angesichts des Trubels, der auf der Anemone ausgebrochen ist. Verzweifelt bemüht er sich, zumindest alles flüchtig zu erfassen, was gleichzeitig rund um ihn geschieht: Den Schreiber, der vor Angst auf seinen Tisch gesprungen ist und sein Skizzenblatt zu einem Knüppel zusammengerollt hat; die flinken Geschöpfe mit dem dunkelgrauen Fell und den hervortretenden Kiefern, die aus immer größer werdenden Löchern in den Schotten zum Maschinenraum hervordrängen; die kleine Vertreterin des Adelsstands, Zakynthia Epikynon, die mit verzweifelten Bewegungen ihren Geigenbogen über die Saiten zittern lässt; die vier anderen Mädchen, die auf Befehl der Bauerntochter ihre Röcke ausgezogen, sie am Bund zugezerrt und sie mit Wasser aus den Blumenvasen übergossen haben, um die Eisenbeißer, die sich wie in Trance um die Geigenspielerin drängen, mit den nassen Säcken einzufangen und sie nach draußen weiterzureichen, wo der Schiffsdiener sie entgegennimmt und über die Reling in den Nebel wirft. Inzwischen kämpft der Schiffsdiener sich gegen den versiegenden Strom an Eisenbeißern durch die zerlöcherten Schotten in den Maschinenraum vor, aus dem ihm die verstörte Miene des ersten Maats entgegenblickt. Er wisse auch nicht, was passiert sei, keucht er, die Ösen säßen jedenfalls noch fest; für den Ausdruck, der in seine geröteten Augen tritt, als er die Mädchen beim Einfangen der gefürchteten Nager sieht, wird der Chronist noch Jahre später vergeblich die richtigen Worte suchen.

Dann kracht es markerschütternd und die Anemone kippt zur Seite.

Die nächsten Augenblicke werden in der Erinnerung aller Dabeigewesenen hängenbleiben wie Hinterglasbilder in einer Galerie. Manche sind unscharf, oft ist der Zusammenhang zwischen einigen nicht mehr nachvollziehbar und man fragt sich im Nachhinein, wie es vom einen zum nächsten kommen konnte, aber die Bilder selbst bleiben bestehen und ändern sich nicht.

Wie der Bug der Bromelia, vom Führungskabel losgerissen, sich in die Bordwand der Anemone bohrt, ein keilförmiger Riese, dessen Hinterleib im Nebel verschwindet.

Wie sich der erste Maat der Anemone zähneknirschend und mit leerem Blick an die zersplitterten Reste von Zakynthias Geige klammert, während alle mit angehaltenem Atem darauf warten, dass das Führungskabel ihres Schiffes unter dem Druck reißt und sie endgültig kentern.

Gedämpfte Hilferufe aus dem Nebel und der Geruch verschmorender Maschinenteile.

Der Schiffsdiener der Anemone, der als Einziger die Lage sofort erfasst und drei Schiffstaue über die Bordwand des ächzenden Schwesterschiffs wirft.

Ein zappelnder Haufen aus fünf Mädchen und drei Passagieren im zernagten Aussichtsraum der Anemone, aus dem nacheinander Anachora, Rhea und die kleine Niobe sich freikämpfen und ebenfalls durch das offenstehende Fenster aufs Freibord klettern, um dem Schiffsdiener zu helfen.

Hilflose Befehle, vermutlich gut gemeint, aus der Steuerkabine vorne, deren Türen und Fenster sich hoffnungslos verkeilt haben und nicht mehr öffnen lassen.

Das erste bleiche Gesicht, das hinter der Bordwand der Bromelia auftaucht: Thekna, die Schreinerstochter aus Elion. Der Blick, der zwischen ihr und Anachora den Nebel und den Rauch durchschneidet, ist gleichzeitig der erste zwischen Elionern und Marmarianern seit Beginn der Zeit. Er dauert nur einen Moment, dann taucht Thekna schon wieder unter, um die anderen zu holen.

Eine Sekunde atemlosen Schreckens, als die Bromelia sich mit einem furchtbaren Knirschen zur Seite neigt und mit dem Heck gegen den Bug der Anemone schlägt. Nur die Haftung der beiden Metallwände aneinander hält sie noch fest; jeden Moment kann die Strömung die von ihrem Seil losgelöste Bromelia losreißen und für immer davonspülen.

Eine Gestalt, die mit einem Schrei über die Bordwand springt und sich regungslos auf dem Vorderdeck liegenbleibt. Der elionische Chronist, erfährt man später, der sich beim Aufkommen den Hals gebrochen hat.

Von den Besatzungsmitgliedern der Bromelia vorangeschickt, klettern zwei Mädchen über die nun straff gespannten Seile zu Anachora, Rhea, Niobe und dem Schiffsdiener hinüber. Selena sinkt in Rheas Arme, sobald sie das Seil loslässt, sie ist zu keiner weiteren Bewegung in der Lage. Karla hingegen schreit hinüber, Thekna solle ihnen folgen, aber schnell.

Ein Schreigefecht an Bord des todgeweihten Schiffs, dann klettert ein Mann auf das Seil, ein anderer reicht ihm etwas, ein großes Bündel, das sich nach der nervenzerreißenden Kletterpartie des Mannes als ein Mädchen ohne Beine herausstellt. Hinter ihm hangelt sich der Kapitän der Bromelia unter den Tauen herüber, vor seinen Körper gebunden ein weiteres Mädchen mit blutüberströmtem Gesicht. Alle kümmern sich sofort darum, die Wunden der beiden Fischerstöchter zu versorgen, nur Anachora starrt noch hinüber zum anderen Schiff.

Thekna taucht auf, streckt sich über die Bordwand und greift nach den Seilen.

Die Bromelia schreit unter dem Druck der Strömung auf und rutscht ab.

Die stählernen Leiber der beiden Schiffe erzeugen gemeinsam einen letzten, hohen Ton, einen Schwanengesang, ein Totenlied. Die Seile reißen. Thekna geht in Deckung.

Einmal noch taucht ihr Gesicht im Nebel auf, den Blick noch immer auf Anachora gerichtet. Dann nur mehr weiche Leere.

Linah, das Mädchen ohne Beine, schreit.

Im FlussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt