Die Tauben schlagen zu (1)

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Stille lag über Marmaria, als hätte jemand eine riesige Glasglocke über die gesamte Insel gestülpt und die Zeit angehalten, um sie genauer zu betrachten. Der Fluss, der den Hügel umspülte, warf das Licht der Mittagssonne glitzernd zurück; an den Wänden der ganz außen liegenden Gebäude tanzten Tausende heller Flecken. Das war die einzige Bewegung, die von außen sichtbar war – von den wenigen Vögeln abgesehen, die trotz der Hitze über den schwimmenden Feldern flussabwärts kreisten, auf der Suche nach Körnern oder erschöpften Kleintieren.

Die Insel hatte in etwa die Form eines Tropfens: Dort, wo der Fluss in voller Stärke an das Vulkangestein brandete, war sie zu einem Halbrund abgeschliffen; flussabwärts hingegen, in ihrem Kielwasser, hatten ihre Bewohner über Jahrhunderte hinweg immer weitere Flöße und Plattformen angehängt, auf denen sie das Getreide zogen und die Tiere hüteten, für die in der wuchernden Stadt kein Platz mehr war. Längst wölbten sich die äußersten Gebäude weit über den Fluss, Lagerhäuser und Fischerkräne wurden immer wieder von Sturm oder Strömung fortgerissen und neu aufgebaut; wer so weit unten wohnte, war Kummer gewohnt. Weiter oben lagen die Wohnbauten der Beamten; darüber wiederum reihten sich die Villen der Adligen entlang des Corso, der Prunkstraße, die rings um die gesamte Insel führte. Hier standen in regelmäßigen Abständen reglose Wächter, deren Blicke den Corso und die untere Stadt überwachten; auch sie konnten an diesem heißen Mittag nichts Besonderes entdecken. Hinter ihnen, gesäumt von Regierungsgebäuden und Akademien, ragte der Turm in die Höhe, undenkbar hoch und massiv, erbaut nach Plänen und Anweisungen aus Kephalon zu einer Zeit, die längst nur mehr Legende war.

Im höchsten Zimmer dieses Turms, wo gewöhnlich der Krypte seinen Dienst versah und vermittels einer Kalklampe und drehbarer Spiegel Blinksignale zur Schwesterinsel Elion sandte, saßen ein Mann und eine Frau an einem Marmortisch und sprachen. Die Kalklampe war dunkel, die Spiegel waren eingeklappt; eine Raute aus Sonnenlicht fiel durch das Fenster auf den Steinboden, darüber tanzten Staubflusen durch die stille Luft. „Das ist nichts Neues“, sagte die Frau, fast ohne einen Muskel zu bewegen. Ihre Stimme war leise, aber nicht aus Angst oder Verunsicherung. Kurea Perikypridis brauchte nicht laut zu sprechen; man hörte ihr zu. Sie hätte die Lippen bewegen können, ohne einen Hauch hervorzubringen, und man hätte ihr den Wunsch oder die Meinung von den Lippen abgelesen. Sie war die mächtigste Frau auf Marmaria; noch nie hatte sie ihre Stimme erhoben. Aber in diesem Augenblick hegte sie ernsthaft den Verdacht, dass sich das in den nächsten Minuten ändern könnte. „Und deswegen habt Ihr mich über fünfhundert Stufen hier herauf steigen lassen?“

Jeden anderen Mann hätte sie für eine solche Zumutung zuerst verspottet und dann für seine Insolenz in den Fluss werfen lassen. Aber der Mann, der ihr mit steifem Rücken gegenüber saß und an einem Krug Süßwein nippte, wusste genau, wie viel er sich mit ihr erlauben konnte. Sie war zwar die mächtigste Frau Marmarias, aber er war der mächtigste Mann. Auch wenn sie einander nicht ausstehen konnten, waren sie doch voneinander abhängig.

„Ich habe Euch hierher gebeten“, formulierte Statthalter Patroklon mit exakt gesetzten Worten, „um Euch zu warnen.“

Kurea Perikypridis rümpfte die Nase. „Vor dem Putsch? Ich sagte Euch doch schon, die Kleinen Häuser werden es nicht wagen, meinen Zorn herauszufordern; und die Großen sind untereinander zu uneins, um sich auf eine gemeinsame Vorgehensweise zu verständigen. Habt Ihr den Bericht nicht gelesen, den meine Spionin von der jüngsten Kabale im Haus der Perithymenon gebracht hat?“

Ein leises Klirren hallte durch den Raum, als Patroklon den Weinkrug etwas fester als notwendig auf dem Tisch abstellte. „Kurea“, sagte er bedächtig und legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander, „Ihr seid heute außergewöhnlich gesprächig. So viele Worte machen gewöhnlich nur Menschen, die etwas zu verbergen haben.“

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