Rhea, die Wilde

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Rhea verabscheute die Stadt. Weil die Stadt im Lauf der Jahrhunderte ganz Marmaria gefressen hatte, verabscheute Rhea also ganz Marmaria. Weil aber diese Stadt trotzdem etwas zu essen brauchte und sich die Marmarianer nicht nur von Flussfisch ernähren wollten, hatten sie schwimmende Felder angelegt; diese verabscheute Rhea nicht. Sie waren nur durch schwere Eisenketten und Schwimmbrücken mit dem Festland verbunden, das eigentlich Feststadt heißen müsste, denn Land gab es dort ja keines mehr. Vielleicht waren oben beim Nusshafen noch einige Klippen unbebaut, wo die Chtoniapriesterinnen hausten; aber um dort hinzukommen, hätte Rhea, die auf den schwimmenden Feldern wohnte, ganz Marmaria durchqueren müssen, das sie, wie gesagt, verabscheute. Gewöhnlich blieb sie deshalb zu Hause auf der Tierinsel, bei den Laufvögeln und Sprunghunden, den Zeiselmäusen und den Salamandern, die zwischen den Gehegen herumwuselten und auf den Futterfeldern Unruhe stifteten. Diese Tiere waren mehr ihre Artgenossen als die Menschen in der Stadt; ausgenommen vielleicht die ganz kleinen Kinder und Rheas vier Freundinnen vom Taubenschlag. Andererseits, was war aus dem Taubenschlag geworden? Ein Gelegenheitsvergnügen. Von Diotis war nichts mehr zu hören gewesen, seit sie bei den Chtonianerinnen eingetreten war; Niobe war viel zu sehr mit ihren Dampfwerken beschäftigt; Zakynthia, na gut, Zakynthia hatte sich ab und zu gemeldet, um sie in ihren schrecklichen Palast zum Keksefuttern einzuladen. Wo einen ständig irgendwelche Diener anstarrten, die überall herumstanden, als würden sie zur Einrichtung gehören; und als wäre das noch nicht genug, mussten aus allen Ecken auch noch Statuen herunterglotzen und die Bilder von diversen Urgroßmüttern von den Wänden. Nein, auch das war nicht gerade nach Rheas Geschmack. Einmal waren sie alle zu ihr auf die Tierinsel gekommen, aber das gemütliche Schaukeln des Bodens und der würzige Geruch der Ställe hatte ihre empfindlichen Stadtkindermägen so aufgewühlt, dass sie alle nur schnell ins Meer gekotzt und gleich wieder den Rückzug angetreten hatten. – Und Anachora natürlich, tja, Anachora meldete sich wie immer nur, wenn sie etwas von Rhea brauchte.

Rhea verabscheute die Stadt, aber wenn Anachora sie brauchte, musste sie natürlich trotzdem hin. Sie hatte ihr einen Turmboten geschickt; noch so einer, der wahrscheinlich noch nie außerhalb der Stadt gewesen war und deswegen im Zickzack mitten durch das Futterfeld gelaufen war, als würde jedes kleine Schwanken des Bodens ihn aus der Orientierung bringen. Der Brief, den er ihr gegeben hatte, hatte so verrückt geklungen, dass Rhea auch ohne Anachoras Bitte sofort aufgebrochen wäre, um bei ihrer Freundin nach dem Rechten zu sehen. Natürlich waren die Stadtleute alle irgendwie verrückt, und natürlich neigte Anachora zu Übertreibungen; aber der Brief hatte geklungen, als würde sie sich jeden Moment in den Fluss stürzen, wenn Rhea ihr nicht sofort zu Hilfe kam. Also kam sie, mit einem dicken Bündel auf dem Rücken, und hastete über die Große Schwimmbrücke der Stadt entgegen.

Die Stadt. Wie eine fette Spinne hockte sie auf der Insel, krallte sich mit tausend Füßchen aus Holz und Metall an den Felsen, grub ihre Giftzähne tief in das Fleisch Marmarias und spannte auf allen Seiten große Netze in die Strömung, in denen sie Milliarden blinder Fische fing, um sich davon zu ernähren. In ihrem Inneren rumorten seltsame Maschinen, und Unmengen geduckter Menschen drängten sich durch ihre Tunnel, von denen einige wahrscheinlich nie die Sonne und den Himmel sehen würden; bleiche Kreaturen, aufgedunsen vom ewigen Fischbrot, wie Maden in altem Fleisch.

Rhea schauderte. Ihre Fantasie ging wieder einmal mit ihr durch. Natürlich waren sie in Wirklichkeit bemitleidenswert, diese Stadtmenschen, die gar nicht wussten, dass es auch ein anderes Leben geben konnte. Elion zum Beispiel, Elion war so viel schöner: Nur wenige kleine, alte Städte in den Klippen, dann fast bis zum Horizont Felder und sanfte Hügel bis zu den Arenastädten, in der Mitte höhere Gebirge mit absurden Bäumen, deren Greifarmäste sich im Wind bewegten wie die Chtonianerinnen, wenn sie tanzten; und die Turmstadt, Kuprion, war angeblich auch nur eine größere Burg rund um den höchsten Berg, auf dem der Turm stand. Und erst die Fischgärten flussabwärts mit ihren Hausbootsiedlungen und schimmernden Angelruten; kein Vergleich zu den Kränen, die hier gerade die riesigen Netze einholten, voll zappelnder Weißfische, die an der Luft erstickten. Ekelhaft.

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