Die Überfahrt (1)

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Triumph der Wissenschaft! Wieder einmal hat der Mensch die feindliche Natur bezwungen, wieder einmal hat sich gezeigt, dass nichts und niemand vor dem Fortschritt sicher ist. Auch nicht der Fluss! Die ewige, scheinbar unüberwindliche Barriere zwischen den Zwei Inseln ist nicht mehr. Automatische Zugschiffe, von genialen Ingenieuren gebaut und zunächst ohne Besatzung auf die Reise geschickt, haben beindicke Kabel von Marmaria nach Elion und von Elion nach Marmaria gezogen, gehärteten Stahl, dem weder die Wellen noch die Fische etwas anhaben können. Um nicht von der Strömung von ihrem Ziel fortgetrieben zu werden, wurden die Schiffe auf einem steilen Kurs stromaufwärts geschickt, sodass sie im Zusammenspiel ihrer Maschinenkraft und der entgegenwirkenden Strömung des Flusses einen Bogen beschrieben, der sie schlussendlich genau an der geplanten Stelle am Ufer der jeweils anderen Insel eintreffen ließ. Ein Beispiel für die unnachahmliche menschliche Intelligenz, die vor keiner Hürde zurückschreckt, der kein Hindernis zu groß ist! Jetzt bleibt nur noch zu beweisen, dass die Kabel auch mit Menschen beladene Schiffe sicher von einem Ufer zum anderen bringen können, Schiffe mit schrägem Rumpf, damit die Strömung sie in die gewünschte Richtung treibt, und jeweils zwei Ankerösen, mit denen sie sich an das Stahlseil klammern. Um zu zeigen, wie sehr sie den Seilen, ihren Ingenieuren und dem Fortschritt im Allgemeinen vertrauen, haben die Regierungen der beiden Inseln jeweils fünf Kinder ausgesucht, die alle für wichtig befundenen Stände ihrer Gesellschaft vertreten, um auf der Jungfernfahrt dabei zu sein. Die Nachrichtenzeichner und Porträtisten sind schon auf den Kais versammelt, um den Feiern zur Abreise beizuwohnen, über den vertäuten Schiffen beiderseits des Stroms blitzen die größten Feuerwerke seit Menschengedenken, Jubel steigt zum Himmel und die Kinder, adrett weiß und gelb gekleidet, werden von den Statthaltern persönlich auf die Seilschiffe geführt. Das von Marmaria abreisende Schiff trägt den klingenden Namen Anemone, während von Elion die Bromelia aufbricht, um in der Mitte des Flusses das andere Schiff zu treffen und mit einem Händeschütteln den Triumph der Zivilisation über die Strömung zu besiegeln.

Phoktes weiß nicht, ob er weinen oder heimlich grinsen soll, als ihm der Statthalter an der Reling die Hand schüttelt und ihm als ersten Maat Glück auf der Reise wünscht. Er wird sterben, soviel ist sicher. Doch was kommt danach? Wird es ein glorreiches Nachleben geben, wie ihm die Ladini in ihren rätselhaften Briefen angedeutet haben? Oder wird ihn der Fluss verschlingen und verdauen, wie es ihm seine Mutter immer angedroht hat, wenn er wieder auf den Klippen stand und fischte? Oder ist es gleichgültig, was nach dem Tod kommt, solange der Tod selbst ehrenvoll und würdig ist? Ist es ein ehrenvoller Tod, der ihm bevorsteht?

Doch all diese Fragen sind müßig. Phoktes hat einen Schwur geleistet, und er weiß, was seine Pflicht ist. Unten im Bauch des Schiffes gibt es eine Kurbel, die mit einem Bolzen festgesteckt ist, der verhindert, dass die Ösen sich öffnen, mit denen das Schiff am Stahlseil hängt. Der Bolzen ist festgeschweißt und durch menschliche Kraft nicht zu entfernen, aber in einer Holzkiste, die Phoktes' Freunde mit an Bord geschmuggelt haben, gibt es alles, was er braucht, um die Anemone von ihrem Kabel abzulösen und mitsamt ihrer Besatzung dem Tod in den Fluten überlassen. Schon jetzt trommeln die Wellen protestierend an der flussaufwärts liegenden Bordwand, erzürnt darüber, dass so etwas Kleines es wagt, ihnen Widerstand entgegenzusetzen; wenn erst die Ösen um ein kleines Stück gelockert sind, wird der Fluss seiner Wut Genüge tun können. Gewissermaßen ist Phoktes also ein Helfer der betrogenen Natur, ein Kämpfer gegen die menschliche Überheblichkeit. Seht zu und hütet euch!, wird seine Tat den Menschen auf den beiden Inseln zurufen, hütet euch davor, mehr zu wollen, als euch zusteht! Diener sollt ihr sein und keine Herrscher!

Die fünf Mädchen beugen sich über die Reling, ihre gelb-und-weißen Kleidchen flattern wild im Wind. Sie halten sich mit bleichen Fingerchen schön fest an dem Gestänge an, wie man es ihnen eingeschärft hat, damit sie nur ja nicht über Bord fallen und den schönen Triumph ruinieren. Oder gar das Fest verpassen, das man auf der anderen Insel für sie bereitet haben wird! Exotische Spezialitäten, erste körperliche Berührungen mit den Menschen von der anderen Seite, von denen man bisher immer nur annehmen konnte, dass sie in etwa so sind wie diejenigen, die man schon kennt. Wie werden ihre Kleider aussehen, wie wird ihr Essen riechen? Die gespannte Neugierde der Kinder entlockt Phoktes ein müdes Lächeln; als Vertrauter der Ladini weiß er alles über diese Welt. Es gibt nichts Neues auf den beiden Inseln, nichts, das es wert wäre, diese Reise auf sich zu nehmen.

Nichts, außer dem Tod.

Eines der Mädchen zupft an Phoktes' Uniform, während er noch mit finsterem Blick auf den zurückweichenden Hügel von Marmaria schaut. „Herr Maat“, fragt es, „was ist das da?“ Die kleine Hand, gerade halb so groß wie seine, zeigt flussaufwärts in Richtung ihrer Fahrt.

Dort scheint die Wasseroberfläche sich zu wölben, aber es ist keine Insel und auch nicht das Schwesterschiff, die Bromelia aus dem Seilhafen in Elion, die schon als kleiner Punkt gerade voraus zu erkennen ist. „Eine Wolke aus Kephalon“, erklärt Phoktes nach kurzer Überlegung, „die der Wind auf den Fluss gedrückt hat.“

Die Kleine heißt Niobe und repräsentiert den Stand der Handwerker an Bord der Anemone. Ihr Gesicht ist rundlich, ihre Augen sind groß und neugierig, ihr Mund quillt über vor Fragen. „Wieso sieht sie dann aus wie eine Welle? Kommt sie aus Kephalon? Wird man nass, wenn man hineinkommt?“ In weniger als einer Stunde wird sie tot sein, wie sie alle. Bis dahin will Phoktes ihr den Gefallen tun und erklärt, die anderen Mädchen hören zu, gemeinsam stehen sie an der Reling und hören die Geschichten an, die sich der erste Maat ausdenkt, um sich von dem, was auf sie zukommt, abzulenken. Geschichten von lebenden, denkenden Wolken, die sich je nach Gemütslage weit ausdehnen oder zusammenziehen können, Sinnbilder dessen, was in Kephalon vorgeht. Wenn sie mit Blitzen schießen, sagt er, herrscht dort oben Streit. „Unsinn“, meint Niobe. „Kephalonier streiten nicht. Und Blitze sind elektrische Entladungen, das weiß ich von meinem Vater. Er kann Wolken im Labor herstellen, wissen Sie.“

Phoktes beginnt zu zittern, zuerst innerlich, dann muss er sich schon mit den Händen an der Reling festklammern, um noch einen halbwegs stabilen Eindruck zu machen. Er fühlt sich von drei Seiten bedrängt: Die Nebelbank rückt immer näher, in Kürze wird sich eine von Niobes Fragen von selbst beantworten. Gleichzeitig weiß er, dass er die Mädchen alleine lassen und die Vorbereitungen für ihrer aller Tod beginnen sollte, noch bevor sie die Wolke erreichen. Die beiden Schiffe müssen gleichzeitig untergehen, der Moment ist knapp bemessen, damit nicht der Kapitän des einen das Unglück des anderen bemerkt und seinen eigenen verhindern kann. Die Wolke könnte ihm dabei zugute kommen und seine Verzögerung ausgleichen, aber darauf darf er sich nicht verlassen. Und Niobe hängt noch immer an seinem Ärmel, sie lässt nicht locker mit den Fragen und den Einwänden, vorlautes Kind.

Vergeblich bemüht er sich, Wut auf sie aufzubauen, weil sie ihn von der Erfüllung seiner Aufgabe abhält. Erst als die Wolke endlich da ist und sie durch eine senkrechte Wand aus Wasserdampf in dichten Nebel fahren, schafft er es, sich loszureißen und mit einer gemurmelten Erklärung im Inneren des Schiffes zu verschwinden. Zu seinem Leidwesen folgen ihm die Fünf, bis er sie an den Schotten zum Maschinenraum abwimmeln kann. Entnervt und zitternd schiebt er die Stahltür hinter sich zu und eilt zu seiner Kiste.

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