Diotis, die Priesterin

26 3 0
                                    

„Nein, bitte, lasst mich ausreden. Bitte. Ich durfte ja jetzt fast zwei Jahre lang nicht reden, kein Wort, nein, nur zuhören, lernen, glauben. Oder nicht glauben, nicht glauben: Es war alles eine Lüge, alles war eine Lüge, alles! Kephalon gibt es nicht, sagten sie, die Priesterinnen mit ihren hellen Gesichtern und riesigen Augen, weil sie ihre ganze Zeit in den Höhlen verbrachten, die der Fluss unter der Insel ausgewaschen hat, ihr würdet euch wundern, wie unstabil das alles aussieht von da unten, wie porös. Weil sie wenn dann nur in der Nacht hinausgehen, um sich vom Glanz der Welt nicht blenden zu lassen. Das ist alles nur Täuschung, sagten sie, nur Illusion. Die Wahrheit kann nur von innen kommen, sagten sie, aus dem eigenen Inneren und aus dem Inneren der Insel, nie von außen. Und erst recht nicht von einer Insel flussaufwärts, die es ja gar nicht gibt, sagten sie, erst recht nicht von erfunden weisen Alten von der Insel Kephalon, die ihre angeblichen Weisheiten in Nüssen durch den Fluss zu uns herabschwimmen lassen. In Nüssen, sagten sie und lachten hektisch, versucht euch das vorzustellen! Unmöglich, dass auch nur eine Nuss eine der Inseln treffen würde, geschweige denn, dass sie immer nur im sogenannten Nusshafen ankommen würden, abgesehen davon, dass es Kephalon ja gar nicht gibt, also können die Nüsse auch von nirgends herkommen. Sagten sie. Wir durften nicken und schweigen und lachen, wenn sie Witze darüber machten, wie die Leute sich die Kephalonier vorstellten, groß und hellhaarig oder riesig und dunkel, niemand weiß es, sagten sie, weil niemand es wissen kann, weil es Kephalon ja gar nicht gibt. Nur eine Lüge, sagten sie, erzählt von denjenigen, die auf den zwei Inseln regieren, damit sie sagen können, es sind ja nicht wir, die die Gesetze machen, nein, es sind die weisen Kephalonier, also beschwert euch nicht oder zumindest nicht über uns, die Regierenden; denn wenn ihr euch über Kephalon beschwert, stört das hier niemanden, denn Kephalon gibt es ja nicht. Weswegen, glaubt ihr, sagten sie, dürfen nur unterzeichnete Beamte in den Nusshafen? Weswegen haben sie zweimannshohe Steinmauern rundherum getürmt, wenn nicht, damit niemand sehen kann, dass dort gar nichts ankommt, dass dort gar nichts ist, außer vielleicht einiger Schreibstuben für die Gesetzesfälscher?

Alles Lügen.

Dabei tun sie so ehrlich. So verständnisvoll, obwohl es gar nichts zu verstehen gibt, denn wir Tempelschülerinnen durften ja nicht sprechen, nur nicken und ab und zu einmal den Kopf schütteln, aber auch das nur, wenn sie forderten, dass wir ihn schüttelten. Wir sollten ihnen nicht blind glauben, sagten sie. Nur anhören, was sie zu sagen hatten, es aufsaugen, bis wir nichts Anderes mehr kannten, und dann, wenn wir nach den zwei Jahren Tempelschule immer noch nicht sicher sind, sollen wir ganz hinauf an die äußersten Klippen gehen, die einzige Stelle, an der Marmaria noch völlig unbebaut ist, wo der Fluss gegen die rohen Felsen schlägt. Wir sollten in der Nacht auf die äußerste Klippe klettern, jede für sich, ganz allein, und bis zum Sonnenaufgang an den Horizont blicken, flussaufwärts, immer gegen den Wind, um zu sehen, ob dort ein Licht ist. Wenn die Kephalonier so groß und mächtig sind, sagen die Priesterinnen, dann müssen ihre Städte mindestens so hell und prächtig sein wie unsere, wie der Hügel Marmarias, und wir sehen in nebelfreien Nächten ja sogar die Lichter von Elion auf der anderen Seite des Flusses, obwohl dort fast nur Bauernhäuser sind. Also müsste man, sagten sie, Kephalon ganz bestimmt sehen, wenn man lang genug und ausreichend genau den Horizont betrachtet. Das war meine letzte Glaubensprüfung, der letzte Felsen, den ich überklimmen musste, bevor ich zur Priesterin geweiht würde. Ich wollte so gerne zur Priesterin geweiht werden, ihr wisst doch, als ich damals mitgefahren bin, war ich schon in der Schule der Chtoniapriesterinnen aufgenommen, ich war die Repräsentantin der Chtonia, ich war so stolz, ich glaube, ich war ganz unfreundlich zu euch, weil ich so stolz war; fast mein ganzes Leben lang wollte ich endlich, endlich Priesterin werden, aber dann war es alles eine Lüge. Alles. Alles.

Ich stand auf dem Felsen, auf der vordersten Klippe, der Fluss spuckte mir ins Gesicht. Keine Lampen am Horizont, nur Gischt und Mondlicht, dass sich auf den Wellen spiegelte. Und dann auf noch etwas. Etwas Helles, das näher kam. Sicher nicht Kephalon, dahinter waren Wellen und es trieb im Wasser, aber es kam näher, wurde immer größer, eine Welle schleuderte es in die Felsenhöhlung direkt unter meiner Klippe und es starrte mich mit schwarzen Augen an. Ja, genau: Es war Haiphas. Riesengroß und tot, dachte ich erst, wollte schreiend davonlaufen, stand stocksteif und mit Klauenfingern da, bereit, mich zu verteidigen, wenn es auf einmal hochfahren und mich angreifen wollte, das Alptraumwesen, dachte ich, aber dann lag es da und wurde von der nächsten Welle an den Stein geworfen und ächzte, ja, es ächzte einmal hörbar, und als ich dann genauer hinsah, wie es immer noch im Wasser trieb, bewegte es die Gliedmaßen auf eine Weise, die nicht einfach nur von den Wellen geschaukelt war, nein, es bewegte sich und lebte und war hilflos und noch eine Welle und es würde vielleicht wirklich tot sein. Tot. Ich dachte daran: tot. Vor meinen Augen. Oder ich konnte weglaufen und wissen: Er ist tot. Und ich wäre als Priesterin ein Leben lang auf eine Lüge eingeschworen.

Im FlussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt