Selena, die Traumwandlerin

49 5 3
                                    

Der Fluss warf sich mit aller Kraft gegen die Felsen unter Selenas Füßen; wütend spritzte die Gischt. Wer wagte es, sich ihm zu widersetzen, hier, wo er am schnellsten strömen wollte? Man hatte ihm Granitblöcke in den tosenden Leib geworfen, um den Seilhafen zu schützen. In Jahrzehnten würde er sie abgenagt und in Jahrhunderten ganz Elion verschlungen haben. Er war ein hungriger Fluss, ein eifersüchtiger, er kannte keine Gnade.

Zwischen den Steinen hatte sich ein dunkler Strang verfangen, er glänzte im Abendlicht. Selena bückte sich, um ihn herauszuziehen, als knapp neben ihr etwas ins Wasser einschlug. Es war nicht an ihr vorbeigerollt, es war geflogen; jemand musste es geworfen haben. Selena wandte sich herum.

Hoch auf den Klippen stand ihre ältere Schwester, ihre Hände malten zornige Zeichen in den Himmel. Selena musste die halbe Böschung aufwärts klettern, bevor sie verstand, was sie schrie: Der Fluss schrie lauter, als Menschen vermochten. Was ihr einfalle, brüllte die Schwester. Ob sie sich nicht mehr erinnere, was ihrer dummen Freundin Thekna zugestoßen sei.

„Sie war nicht dumm.“

Jedenfalls sei sie tot, brüllte die Schwester, packte Selena am Arm und zerrte sie hin über die Schafweide zum Taubenhaus. Außerdem hätte sie ihr ruhig beim Taubenzählen helfen können.

„Hundertachtundzwanzig“, sagte Selena.

„Was?“

„Es sind hundertachtundzwanzig Tauben. Vorige Woche waren es hundertneunundwanzig, dann hat Papa eine nach Marmaria geschickt, um nachzufragen, warum keine mehr von drüben kommen. Wenn seither eine eingeflogen wäre, hätten wir davon gehört.“

Die Schwester schwieg.

Auf der äußersten Klippe stand das Taubenhaus, über den Fluss gelehnt auf dürren Holzbeinen, hochmütig und windumbraust. In Sturmnächten schnappte der Fluss mit weißen Wellenfingern nach den Stelzen. Irgendwann würde er sie fassen und das Haus mit sich reißen, wie er alles mit sich riss, das sich ihm entgegenstellte. – Eine steile Hühnertreppe führte hinauf zum Hauseingang. Irgendwann würde sie durchfaulen und unter ihren Füßen brechen.

Fort, dachte Selena. Sie musste fort von hier.

In der Stube stellte die Mutter eben Suppenschüsseln auf. Selena solle sich die Hände waschen, seufzte sie. Hinter dem Tisch saß mit ruckendem Kopf der Vater und warf einen Blick wie eine Ohrfeige nach Selena. Er sprach nicht viel und mochte es nicht, wenn gesprochen wurde. Tag und Nacht horchte er nach dem Taubenglöckchen; und seit es nicht mehr schellte, weil keine Tauben aus Marmaria mehr kamen, horchte er noch grimmiger danach. Wenn irgendein Geräusch von oben kam, ruckte sein Kopf wie der Kopf einer Taube. Er war frühzeitig kahl und krumm geworden, die Haut brüchig vom Sturmwind, die Finger steif vom Futterschleppen. Die Hände der Mutter zitterten, als sie Suppe aus der Suppenkanne in die Schüsseln goss. Auch an der Schwester zeigten sich bereits die ersten Anzeichen.

Sie musste fort von hier.

Aber wohin?

Den schwarzglänzenden Strang, den sie bis hierher in der Faust gehalten hatte, legte Selena auf den Kaminsims und steckte die Arme bis zum Ellenbogen in den Waschbottich. Das Wasser war kalt und zwickte. Als sie sich mit tropfenden Armen an den Tisch gesetzt hatte, seufzte die Mutter:

„Du wirst nie erwachsen werden, Selena. Du lernst es einfach nicht. Du kannst den Fluss nicht immerzu herausfordern, ohne dass er dich eines Tages fressen wird. Aber du hörst ja nicht.“

Selena stach mit dem Löffel in die Suppe.

„Und was ist das eigentlich für ein abscheuliches Ding, das du da wieder ins Haus geschleppt hast? Es sieht aus wie etwas Totes!“

Im FlussWo Geschichten leben. Entdecke jetzt