Anachora, die Tänzerin

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"Ganz ruhig, meine Kleine… Bleib nur sitzen… Ich verspreche dir, bald darfst du fliegen!" Anachora streichelte beruhigend mit dem Zeigefinger über den Nacken der Zwergtaube, während sie mit der anderen Hand Futter auf den Boden ihres Käfigs streute. "Jetzt iss dich erst einmal satt, damit du nicht verhungerst auf dem Weg nach Elion." Es war ein weiter Flug über den reißenden Fluss zur Nachbarinsel; schon oft hätte Anachora gewollt, sie wäre selber eine Taube und könnte zu ihren Freundinnen hinüberfliegen, ohne sich der Gefahr auszusetzen, von der Strömung fortgerissen und auf Nimmerwiedersehen davongespült zu werden. Sie traute dem Fluss nicht mehr, seit…

Das ferne Geräusch einer zuschlagenden Türe unterbrach ihre Gedanken. Anachora schloss rasch den Käfig ab, versteckte ihn in der Wandnische hinter ihrem Bett und sauste dann aus ihrem Zimmer, die Treppe hinunter und den Flur entlang. Sie hatte ihre Mutter schon seit Tagen nicht mehr gesehen, weil die Staatsgeschäfte rund um die Bestellung des neuen kephalonischen Gesandten ihre ganze Zeit in Anspruch nahmen. Es war nicht leicht… Aber da hatte sie die Türe schon erreicht, und davor stand nur ihr Vater und machte ein trauriges Gesicht.

"Was ist denn los?", fragte Anachora.

Ihr Vater schnitt eine Grimasse. "Frau Ministerpräsidentin Glaucis hat zu Sonnenuntergang einen Termin mit Herrn Statthalter Patroklon und wird daher vorerst nicht aus dem Turm zurückkehren", imitierte er die quäkende Schreistimme des Turmboten, bevor er in normalem Ton hinzufügte: "Dabei hatten wir für heute Karten für die Große Oper. Von einem anonymen Wohltäter gespendet."

"So ist das eben, wenn man mit der Präsidentin von Marmaria verheiratet ist." Anachora gab sich Mühe, ihre eigene Enttäuschung zu verbergen; sie wusste, dass es ihren Vater noch mehr traf als sie, wenn ihre Mutter wieder einmal alle Pläne umwarf, weil ihr irgendwelche Staatsangelegenheiten dazwischenkamen. Aber irgendjemand musste diese Insel ja regieren, sagte sie dann, wenn sie endlich doch nach Hause kam; den Kephaloniern alleine konnte man es jedenfalls nicht überlassen. – Inzwischen machte es Anachora nur mehr ein wenig traurig und nicht mehr wütend wie früher; aber ihre Vater tat ihr Leid, wie er jetzt auf dem Garderobenschemel saß und seufzte.

Doch dann blickte er plötzlich auf. "Komm mit", sagte er und schnappte seine Tochter bei der Hand. Er zog sie die große Treppe hinauf, durch das Empfangszimmer und die Schreibstube ihrer Mutter, und bevor sie fragen konnte, was er vorhatte, standen sie schon vor einem deckenhohen Schrank aus Schwarzholz, dessen Türen so fein poliert waren, dass sie sich darin spiegelten. "Das sind die Festtagskleider deiner Mutter", erklärte ihr Vater, während er die Türen aufzog. "Die trägt sie nur zu Staatsempfängen, wenn sie sich mit Königen oder Statthaltern trifft." Etwas leiser fügte er hinzu: "Ich habe sie fast nie in einem davon gesehen."

Anachora staunte. Auch sie hatte noch nie gesehen, was sich in diesen Zimmern und Schränken alles verbarg; die Arbeitsräume ihrer Mutter waren verbotenes Gebiet für sie. Da hingen Seidenroben und Kristallgehänge, schillernde Samtröcke und Kleider aus Windtuch, die bei jedem Luftzug neue Faltenmuster warfen; alle Wunderwerke der marmarianischen Schneiderkunst und dazu noch einige Ehrengeschenke von der Nachbarinsel Elion oder sogar aus Kephalon waren hier versammelt. – Nur ein Kleid, das ganz außen hing, erkannte sie: Das hatte ihre Mutter bei der Überfahrt nach Elion getragen, als…

"Such dir eins aus", sagte ihr Vater.

"Was?"

"Such dir eins von den Kleidern aus. Wir gehen in die Oper."

Anachora stand lange vor dem offenen Schrank, strich mit der Hand über die Stoffe und nahm ein Kleid nach dem anderen heraus, um es sich anzulegen und sich damit im spiegelnden Holz zu betrachten, bevor sie sich schließlich entschied. Sie wählte eine silberne Schuppenrobe, die der schlanken Gestalt eines Pfeilfisches nachempfunden war, des einzigen Flussbewohners, der gegen die Strömung schwimmen konnte. Das Kleid schmiegte sich an sie wie eine zweite Haut, und für einen Augenblick hatte Anachora tatsächlich das Gefühl, sie müsste nur ins Wasser springen und wäre die Königin der Pfeilfische, im Fluss zu Hause und frei, zu schwimmen, wohin sie wollte. Nach Kephalon mit seinen sagenumwobenen Palästen… oder nach Elion, zu Dinah, Linah, Carla und Selena…

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