Wie oft habe ich schon mal folgendes gelesen?
„Ach, das mit den ganzen Labels ist viel zu kompliziert... Wie wäre es, wenn wir einfach nur alle Menschen sind?"
Wenn es das Wort „homosexuell" nicht mehr gibt, können Menschen nicht mehr sagen, dass sie es sind. Sagen sie es nicht, werden sie als hetero wahrgenommen (da unsere Gesellschaft nun mal heteronormativ ist). Also werden sie unsichtbar gemacht, da es schwer wird, andere zu korrigieren, überhaupt darüber zu reden, sodass man andere nicht darauf aufmerksam machen kann, dass es Homosexuelle gibt und was für einer Diskriminierung sie ausgesetzt sind.
Das ist verkappte LGBT+-Feindlichkeit. Die Leute wollen nicht sehen, dass es Leute gibt, die nicht hetero sind, sie wollen nicht korrigiert werden und sie wollen auch nicht darüber reden oder nachdenken. Sie wollen keine Aufklärung. Angeblich, weil es zu kompliziert wäre, aber es ist bloß, dass sie sich nicht dafür interessieren. Das ist genau so, wie wenn sie ein Buch über Bäume lesen und sich beschweren würden, dass alle einen anderen Namen haben statt bloß „Baum" zu heißen, und deshalb Botaniker*innen und anderen Interessierten sagen würden, sie sollen mit den ganzen Bezeichnungen aufhören, das sei zu kompliziert.
Der Unterschied hier ist jedoch, dass es nicht schlimm ist, sich nicht für Bäume zu interessieren, weil diese Ignoranz nicht mit Leid und Unterdrückung verbunden ist. Da wir in einer Gesellschaftsform leben, wo Mehrheiten über Minderheiten entscheiden können, umgekehrt aber nicht, ist es notwendig, dass sich Mehrheiten für Minderheiten und ihre Probleme interessieren, um ihre Bedürfnisse zu kennen und sie zu respektieren.
„Warum schreibst du in deiner Beschreibung, dass du asexuell bist? Interessiert doch niemanden! Das ist Privatsache! Ich schreibe doch auch nicht, dass ich hetero bin. Es interessiert schließlich niemanden!"
Wenn Menschen in ihrer Beschreibung preisgeben, dass sie queer sind, dann ist es damit Leute sehen, dass sie existieren. Leute stoßen auf ein Profil und denken sich, „ah, schon wieder so jemand. Sie sind viele. Ich sollte mehr an ihnen denken" (dass sie wenige sind, wäre aber auch kein Argument dafür, auf sie nicht zu achten).
Sowas ist bei Heteros übelst unnötig, da eh davon ausgegangen wird, dass sie es sind. Also ja, es interessiert tatsächlich niemanden, dass du hetero bist. Niemand wird „ausversehen" denken, dass du pansexuell bist. Die Sexualität ist zwar Privatsache, aufgrund der Heteronormativität in unserer Gesellschaft leider aber auch politisch. Es hat einen sehr großen Einfluss auf das eigene Leben und das sollte nicht außer Acht gelassen werden. Queer zu sein, geht weit über Sex hinaus. Wenn man seine Sexualität auf sein Profil schreibt, ist es nicht so, wie wenn man über sein Sexleben berichten würde (und im Internet tun das doch eh so viele, warum wird es plötzlich bei Queers zum Problem?). Deine Sexualität gehört zu deiner politischen Identität. Damit ist gemeint, dass damit zusammenhängt, nicht nur wie du die Gesellschaft wahrnimmst, sondern auch wie die Gesellschaft dich wahrnimmt. Es gibt einen Unterschied zwischen hetero und nicht-hetero sein. Indem man sagt, „Labels sollte es nicht geben", macht man diesen Unterschied unsichtbar.
Im Antirassismus gibt es dafür einen Begriff, der ableistisch ist, aber da es der offizielle Begriff ist, schreib ich's trotzdem hin (damit ihr darüber recherchieren könnt): Racial Colorblindness. Das ist, wenn jemand sagt, „mir ist die Hautfarbe vollkommen egal, ich behandle alle ausnahmslos gleich" und sich dabei für antirassistisch hält, obwohl dies eine Form von Rassismus ist. Dieser Satz verhindert, dass ordentlich über Rassismus nachgedacht und geredet wird. Und es ist auch die Absicht der Leute, die ihn aussprechen: Sie wollen nicht darüber nachdenken, sondern es sich bloß einfach machen. Wenn du nicht siehst, wer weiß und wer von dieser Kategorie ausgeschlossen wird, dann können dir Unterschiede, also Rassismus, nicht auffallen. Du kannst dir nicht denken, „ah ja, stimmt, diese Menschengruppe wird immer benachteiligt, das ist statistisch feststellbar, es muss also etwas dagegen unternommen werden". Wie willst du die Statistiken bitte erstellen, wenn du keine andere Kategorie als „Menschen" hast? Einfach keine Statistik erstellen löst das Problem nicht. Durch eine Statistik werden Unterschiede deutlich gemacht. Keine Unterschiede sehen zu können, bedeutet nicht, dass es keine Unterschiede und keinen Rassismus gibt.
„Wer krank ist und wer nicht, das sehe ich alles nicht. Wir sind alle Menschen. Wir sind alle gleich. Wir bekommen alle das gleiche. Wir bekommen alle die gleiche Behandlung. Wieso willst du Medikamente? Bekommen die anderen auch nicht. Ich habe gesagt, für mich sind alle gleich und alle werden gleich behandelt. Ich sehe keine Unterschiede. Ich bin für Gleichberechtigung."Das ist ziemlich heuchlerisch, weil man dir Wörter verbieten will, aber genau die gleichen beschweren sich dann beim Thema „politische Korrektheit", dass es Zensur wäre und wir daher in einer totalitären Gesellschaft leben würden. Manchmal sind es die gleichen Leute, die damit prallen, einen großen Wortschatz zu haben. Wenn Menschen aber Wörter für sich selbst Wörter finden, um sich selbst, ihre Gefühle und ihre Probleme zu beschreiben, dann ist das auf einmal „Neusprech".
Ich habe mal auf Twitter eine Konversation mitbekommen, wo eine Frau über sich selbst sagte, sie sei bi und ein Mann in den Drunterkommentaren sagte darauf,
„und jetzt auf Deutsch!
— das ist deutsch.
— ah okay, ich werde also in meinem Neusprech-Wörterbuch nachschauen."Hier scheinen manche Wörter und Konzepte zu verwenden, die sie gar nicht verstehen. Daher erkläre ich an dieser Stelle mal, was Neusprech ist.
Neusprech wurde von George Orwell für seinen Roman „1984" erfunden. Die Geschichte interessiert uns an dieser Stelle nicht, das wichtigste darüber zu wissen ist nur: Totalitärismus, Massenüberwachung.
Eins der Werkzeuge, um die Menschen zu kontrollieren, ist Neusprech, dessen Prinzip einfach ist: Ziel ist das Vokabular einer Sprache, so weit es geht, zu verkleinern. Denn verkleinert man das Vokabular, so verkleinert man Konzepte, die man mit Wörtern ausdrückt. Man verringert die Gedanken der Menschen, sodass es unmöglich wird, den Staat zu kritisieren, da die notwendigen Wörter nicht mehr existieren.
Zum Beispiel gibt es den Begriff „Gedankenverbrechen" und beschreibt alle Gedanken, die illegal sind. Es ist nicht als Oberbegriff gemeint, sondern es ist wirklich der Name für alle einzelnen illegalen Gedanken. Es steht also für Würde, Gerechtigkeit, Moral, Internationalismus, Demokratie, Wissenschaft, Religion,... Du kannst nicht sagen „Gerechtigkeit ist gut", sondern du musst sagen „Gedankenverbrechen ist gut".Die Idee dieser Sprache wird aber zu häufig falsch von Menschen verwendet, die das Buch nicht gelesen oder nicht verstanden haben. Wie hier zum Beispiel: Ein neues Wort wird erfunden (und so neu ist es jetzt auch nicht): „NEUSPRECH!"
Dabei steht Neusprech genau für das Gegenteil. Beim Neusprech geht es darum, Wörter abzuschaffen — nicht zu erfinden. Jedes abgeschaffene Wort ist ein Sieg, genauso ausdrücklich steht es auch im Buch. Es wurde in diesem Fall einer Person Neusprech vorgeworfen, die das Vokabular der deutschen Sprache erweitert, um Konzepte beschreiben zu können, worüber bislang nicht geredet wurde. Also Wörter, die es ermöglichen, unsere Gesellschaft besser zu verstehen und es erleichtern, sie zu kritisieren (Neusprech möchte eben, dass die Gesellschaft und ihre Normen nicht kritisiert werden). Um auf Leid aufmerksam machen zu können, das bisher für ein Teil der Gesellschaft unsichtbar war und es zu beenden.
Man stellt sich vor, „Heteronormativität" immer neu beschreiben zu müssen, anstatt einfach ein Wort zu haben, das alles schon zusammenfasst... Die Leute, die „Neusprech" rufen, wenn sie mit einem Wort konfrontiert werden, das sie nicht kennen, sind in Wirklichkeit diejenigen, denen man das eher vorwerfen sollte. Was für eine Ironie ist das eigentlich, wenn es für manche ein rhetorisches Werkzeug geworden ist, um Leute zu verhindern, mit neuen Wörtern zu reden?
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Rantbook
Non-FictionIn diesem Buch teile ich meine Meinung zu verschiedenen Themen. Ich diskutiere akturelle Ereignisse, stelle meine Gedanken zu sozialen und politischen Fragen dar und teile meine Haltung zu verschiedenen Themen, die mich beschäftigen. Ich möchte eine...