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Schon seit einigen Stunden lag er still in seinem Bett und starrte auf die große, hölzerne Standuhr an der Wand gegenüber. Vorhin noch hatte er jede Sekunde gezählt, die ihm noch blieb. Doch dann sind seine Gedanken zu wichtigeren Dingen gewandert.

Sein gesamtes Leben spielte sich in seinem Kopf noch einmal ab.

Seine Kindheit. Er war ein sehr glückliches Kind gewesen. Er sah sein eigenes, breit grinsendes Gesicht. Es verschwamm und wurde zum Lächeln seiner Frau, seiner Frau, die er über alles liebte. Neben ihr standen seine beiden Söhne.

Ein zufriedenes Gefühl breitete sich in ihm aus. Seine Söhne waren erwachsen geworden. Sie hatten es weit gebracht und hatten ihre Eltern dabei nie vergessen. Er war immer sehr stolz auf sie. Heute hatte er ihnen das auch gesagt.

Heute war sein Verstand klarer gewesen als die vielen Monate zuvor. Es musste schwer gewesen sein für die Familien seiner Söhne. Heute hatte er sich bei ihnen allen bedankt und ihnen gesagt, dass sie leben sollten. Denn es gab nichts schöneres als das Leben.

Seine Enkel hatte er nicht zu sich gebeten. Diese kleinen Kinder sollten ihn so nicht sehen. So verkümmert und verkommen. Sie sollten ihn gesund in Erinnerung behalten. So wie er sein Leben lang war.

Sein Herz wurde leichter. Vollkommenheit erfüllte sein ganzes Sein. Erleichtert schloss er die Augen. Er hatte sein Leben gelebt. So wie er es wollte und es war gut. Niemals würde er etwas daran ändern wollen.

Jeder kleine Fehler hatte zu etwas großen, besseren geführt. Alles war perfekt so, wie es war. Vielleicht würden es die jungen Leute, die er zurückließ, noch nicht verstehen. Doch irgendwann würden auch sie an dem Punkt angekommen sein, an dem sie loslassen mussten.

Wenn es soweit war, würde es ganz leicht sein. Wenn man sein Leben richtig gelebt hatte, würde man nichts bereuen. Man würde erfüllt von Liebe von der Welt Abschied nehmen können.

Er würde nun endlich gehen können. Vielleicht würde er seine geliebte Frau wiedersehen können. Dann könnte er mit ihr gemeinsam über ihre Kinder und Enkel wachen. Dann könnte er ihnen allen noch von einer anderen Welt aus Trost spenden.

Vollkommen ruhig lag der alte Mann in dem Bett, in dem er die letzten Jahre immer allein schlafen musste. Seine schwachen Arme ruhten neben ihm auf der schweren Decke. Seine Augen waren geschlossen.

Er lauschte den Klängen der Nacht. Der Wind, der an den Fensterläden rüttelte und durch die hohen Fichten vor seinem Haus fuhr. Die Abendvögel hatten längst aufgehört zu singen. Die Vorhänge vor dem einzigen Fenster waren zugezogen, um die Kälte auszusperren, die die Dunkelheit der Erde mit sich brachte.

Die hölzerne Uhr tickte behäbig. Wieder zählte er die Sekunden.

Als die Zeiger übereinander lagen, erschalltem die zwölf Schläge, die er nun schon so oft in seinem Leben gehört hatte.

Der Wind beendete sein Spiel um sein baufälliges Haus. Er ließ den alten Mann in Frieden von der Welt gehen. Die Tiere im Wald hinter dem Haus standen erstarrt, spitzten ihre zarten Ohren.

Als der letzte Schlag verklang, setzten sie ihren Weg fort. Der Wind ließ die dunklen Fichten wieder erzittern.

Der alte Mann war mit einem Lächeln im zerfurchten Gesicht eingeschlafen.

° ° °

-Joiy

00:00 (Zero o'clock) | ShortstoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt