Prolog

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Meine Finger fuhren über die hölzerne Kiste mit den kleinen Ornamenten an der Seite. Die Kiste, die alles dokumentierte, sogar den größten Fehler meines Lebens.

Ganz zu Anfang hätte ich niemals damit gerechnet, dass das alles passieren würde! Die anderen vermutlich auch nicht. Dauernd diese Höhen und Tiefen, die nicht aufhören wollten. Aber das war das Leben, oder nicht?

Im Prinzip wollte ich doch nur glücklich sein. War das nicht genau das, was jeder Mensch wollte – einfach glücklich sein? Aber wie viel Einsatz musste man für das Glücklich sein bringen?

Wieso fühlte man sich auf dem Weg zum Glücklich sein, so unglaublich schlecht? Wieso ist man manchmal so unglaublich traurig und niedergeschlagen? Wieso verletzt man andere Menschen auf dem Weg, obwohl man das gar nicht will? Wieso war Glücklich sein so unglaublich schwer?

Aber im Laufe der letzten Jahre war ich mir bewusst geworden, dass ich das Glücklich Sein erreicht habe. Ich war glücklich und ich wollte mein Leben um nichts in der Welt tauschen. Das sogar mit allen guten, als auch schlechten Erfahrungen, die ich all die Jahre gesammelt hatte.

Meine Finger fanden fast von selbst den goldenen Verschluss, den ich zur Seite schob. Ich musste mich setzen, um mich ein wenig zu beruhigen und um nicht mehr das laute Pochen meines Herzens zu hören. Langsam öffnete ich den Deckel der Kiste, der bei der Bewegung ein leises Quietschen von sich gab.

Wie lange ist es her, dass ich diese Kiste zuletzt in den Händen hielt? Ich hatte die Kiste in meinem letzten High School Jahr gekauft und seitdem bewahrte ich die Kiste auf, an einem Ort, an dem niemand danach suchen würde. Nur einer Person hatte ich erlaubt diese Kiste anzufassen, weil ich die Sorge hatte, wenn jemand anderes die Kiste in die Hände bekommen würde, würden alle Erinnerungen, die damit verbunden waren, einfach ausgelöscht werden.

Obwohl mir natürlich wohl bewusst war, dass ich die Erinnerungen für immer mit mir herumtragen würde, aber allein der Gedanke diese Kiste zu verlieren, würde mir mein Herz brechen. Alles, was ich die letzten Jahre erbaute hatte, würde ihre Grundlage verlieren. Die Grundlage, wieso ich so war, wie ich war und nicht mehr das Mädchen, das ich einst in der High School war.

Die wenigsten wussten überhaupt, dass diese Kiste existierte und das sollte auch so bleiben, schließlich würde derjenige, der die Kiste in die Finger bekommen würde, vieles erfahren – vieles über mich und mein Leben. Und es war ja ausreichend, das fünf Leute davon wussten.

Mein Blick fiel auf die zwölf bunten Umschläge in der Kiste und sofort fing mein Herz an ein bisschen schneller zu schlagen. Auf den Umschlägen stand in krakeliger Schrift mein Name, meistens mit einer Adresse darauf.

Ich erinnerte mich wie gestern daran, wie aufgeregt ich war, als ich den ersten Brief in meinen Händen hielt. Ben, mein bester Freund, stand neben mir und erhaschte hin und wieder über meine Schulter einen Blick auf den Brief, als ich diesen bewundernd las. Luke, mein Bruder, saß desinteressiert neben uns und tippte, wie wild auf seinem Handy herum. Während Lee, einer der Brüder Bens, zuerst einen Monolog darüber führte, was denn wohl der Zweck dieses Briefes sein möge bis er dann plötzlich über den Tisch griff und mir den Brief aus der Hand riss.

Der erste Brief, den ich von Jay, dem Jason Hemmingway, bekommen hatte. Der Jay, der sowohl der Bruder meines besten Freundes und mein Nachbar war, als auch der absolute Mädchenschwarm und Quarterback der Schulmannschaft. Genau dieser Jay über den ich am Anfang der 11. Klasse gesagt hätte, das er kein bisschen Romantik in sich besaß, war ausgerechnet die Person gewesen, von der ich meinen ersten Liebesbrief bekommen habe – und die folgenden zehn.

Zu dem Zeitpunkt dachte ich noch kitschiger und romantischer würde Jay es nicht treiben, aber er tat in Bezug darauf alles in seiner Macht stehende, um mich überfordert, eingeschüchtert, überrascht und zugleich unglaublich glücklich zurückzulassen und das auch noch obwohl uns gute 1100 Kilometer trennten.

Ich griff nach dem obersten Umschlag, der erste Brief von Jay Hemmingway an Lilian Sullivan. Der türkisene Umschlag hatte ein kleines Eselsohr am unteren rechten Eck und er verlor langsam, aber sicher seine intensive Farbe.

Wie in Trance zog ich das Papier heraus, das inzwischen einen leichten gelbstich hatte. Ich faltete das Papier auf und fuhr über die Schrift, die ich vermutlich schon 100 Mal gelesen hatte.

Wo ich jetzt gerade genauer darüber nachdachte, erschienen mir alle Handlungen nur absurd, kindisch und bescheuert. Ich hätte um ein Haar alles weggeworfen, das mir wichtig war und wozu? Weil ich dachte, es würde auch anders gehen – es würde einfacher gehen.

Aber so war das Leben nicht. Es gab die Momente, in denen man sich fühlte, als würde man im Treibsand ersticken, man war vollkommen beengt und es könnte nur einen einzigen Ausweg geben. Und dann gab es diese Momente, wo man sich wie ein Schmetterling fühlte, sorgenfrei und leicht.

Und dann gab es noch diese Momente im Leben, in denen dich das Leben mit so viel überschüttet, ja in denen das Leben einen so unglaublich reich beschenkt, dass man denkt, man würde nie wieder den Boden unter seinen Füßen zu spüren bekommen. Wenn man denkt, dass das alles nur ein Traum gewesen war und am nächsten Morgen aufwacht und sich erst noch einmal kneifen muss, um zu realisieren, was tatsächlich vor sich ging. Wie als würde man nach einer langen Durststrecke endlich an das kühle erfrischende Wasser kommen.

Im Endeffekt fragte man sich nur, womit man dieses ganze Glück verdient hatte. Aber egal, wie oft ich mir diese Frage gestellt habe; ich kam nie zu einer Antwort. Und aus diesem Grund kann ich jeden Tag nur danken, für all das Glück, das ich bekommen durfte.

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