21. Mai

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Lieber Jay,

ja, hier ist er – hier ist der erste Brief von mir. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals einen Brief geschrieben habe.

Vielen Dank Jay für jeden einzelnen Brief von dir. Immer wenn ich deine Handschrift auf einem Brief in unserem Briefkasten fand, blieb dieses Lächeln und diese Vorfreude auf deine Nachricht auf meinem Gesicht den ganzen Tag bestehen.

Du weißt, dass es mir in den letzten Monaten nicht allzu gut ging. Schon bei meinem Besuch in Los Angeles war ich nicht ich selbst. So ging es mir in den letzten Monaten häufig. Zunehmend fühle ich mich nicht mehr, wie ich selbst.

In der Schule muss ich funktionieren: Hausaufgaben machen, für die Abschlussprüfungen lernen und das Ganze noch während ich fast jeden Tag im Training bin. Ich sitze täglich fast bis 2 Uhr nachts am Schreibtisch und lerne. Dreimal die Woche ist Football-Training, am Wochenende immer noch ein Spiel und an den anderen Tagen bin ich meistens im Fitnessstudio.

Ich habe keine andere Wahl als zu funktionieren, ich habe keinen Raum zum Atmen, ich habe keine Zeit für mich. Und ich habe lange mit mir gehadert, ob ich das alles wirklich tun sollte. Aber ich muss dir sagen, ich brauche mehr Zeit für mich. Ich muss erst einmal zu mir selber zurückfinden, bevor es für mich weiter geht.

Ich weiß nicht, ob du es verstehen kannst, aber ich bin einfach nicht die Person, die ich vor vielleicht einem halben Jahr war. Ich brauche frische Luft, neue Luft, neue Eindrücke und muss mich von allem hier erst einmal befreien.

Und es sind nicht nur die Dinge hier. Ich wünschte es wären nur die Sachen hier, die mich einengen. Ich kann das nicht mit der Fernbeziehung. Vor allem nicht in Anbetracht dessen, dass es noch mindestens zwei Jahre dauern sollte, wenn nicht sogar drei oder mehr!

Jay, bitte, es liegt nicht an dir. Du bist der beste, liebevollste, lustigste und charmanteste Freund, bester Freund und Unterstützer, den ich mir vorstellen könnte.

Ich muss einen neuen Weg erst einmal einschlagen, um alles von einer anderen Perspektive zu sehen. Und ich kann nicht versprechen, dass ich auf meinen jetzigen Weg zurückkehren werde, vielleicht finde ich eine Alternative, die mir doch viel besser erscheint.

Und du musst mir versprechen, dass du nicht auf die bescheuerte Idee kommst, dein Studium und damit deine Chance in die NFL zu kommen aufgibst. Du musst leben, du musst jeden Tag leben, als wäre es morgen vorbei. Und wir wissen beide, dass das schon dein gesamtes Leben dein Ziel war – stelle dir das doch auch einfach nur vor: der Jay Hemmingway in der NFL!

Jay, lebe diesen Traum!

Und noch eine weitere Sache: Lass mich los. Lass mich los, damit ich frei bin – und damit du frei bist. Wir müssen frei sein, wie Schmetterlinge, die zumindest erst einmal ihren eigenen Weg gehen und vielleicht – eventuell – finden sie einander wieder.

Ich weiß, dass das hier für dich vermutlich ziemlich plötzlich und abrupt kommt. Dass du Fragen hast oder das noch einmal geklärt haben möchtest. Aber bitte, ich möchte darüber nicht diskutieren. Im Moment erscheint mir das, als die beste und richtige Entscheidung.

Wer weiß, vielleicht ist es die falsche Entscheidung und in fünf oder zehn Jahren frage ich mich, wieso ich mich dafür entschieden habe. Vielleicht werde ich es bereuen, aber vielleicht ist dieser Schnitt einfach wichtig für mich. Wie sollte ich es auch herausfinden, wenn ich es nicht versuche? Wenn ich nicht einen anderen Weg einschlage.

Ich nehme an, dieser Brief ist nicht das, was du erwartet hattest, als du ihn in deinem Briefkasten gefunden hast. Ich wünschte, ich hätte dir etwas Besseres, Schöneres, Romantischeres schreiben können. Etwas das dein Herz genauso vor Freude zum Schlagen gebracht hätte, wie es jeder deiner Briefe getan hat.

Um ehrlich zu sein, wünschte ich mir auch viel mehr, dass ich den Mut gehabt hätte, dir das persönlich zu sagen. Bei meinem Besuch in Los Angeles habe ich mich nicht getraut, du warst so unglaublich glücklich und dein Strahlen war kaum von deinem Gesicht zu bringen. Ich weiß, du würdest mich niemals anschreien, vermutlich wärst du nicht einmal länger als einen Tag ärgerlich auf mich. Du würdest jedes einzelne Mal den Fehler bei dir suchen, als bei den anderen.

Jay, dein Herz ist so unglaublich groß, dass ich es an manchen Tagen überhaupt nicht fassen kann, dass du dich tatsächlich für mich entschieden hast!

Im Endeffekt bin ich einfach feige, dass ich mich hinter diesem Brief verstecke. Dennoch hoffe ich, dass du es mir nicht böse nimmst und dass wir, wenn wir uns bei einer Familienfeier oder Weihnachtsfeier sehen, uns zumindest neutral gegenübereinander verhalten.

Lily

Briefe von dirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt