Die Wölfin fletschte ihre Zähne und unterdrückte das unterschwellige Knurren nicht länger. Sie sollten sehen, dass sie bereit für einen Kampf war, dass sie bereit war, ihr Leben zu verteidigen. Kera wusste, dass sie sie beobachteten, denn sie spürte ihre Blicke in ihrem Nacken prickeln. Sie hockten im Dickicht, nur darauf wartend, hervorzuschnellen und ihre blitzenden Zähne in ihr braunes Fell zu bohren. Dann würden sie sie auseinander reißen, um ihren Blutdurst für heute zu stillen. Es war doch jede Nacht dasselbe. Seit sie nicht mehr jagen konnten, hatten ihre Anführer beschlossen, jede Woche ein Mitglied des Rudels für die anderen zu opfern, damit wenigstens diese die Hungersnot überlebten. Es waren grausame Anblicke gewesen; die Bilder schwirrten immer noch durch Keras Kopf und verfolgten sie bis in ihre tiefsten und dunkelsten Träume, zerrten an ihr, ließen sie nicht gehen. Immer wieder hallte Hajnas Schmerzensschrei in ihren Ohren wieder, quälte sie. Sie war ihre einzige Verbündete hier gewesen. Kera hatte nie geglaubt, dass es eine von ihnen treffen würde. Kera war in der festen Überzeugung davon gewesen, dass irgendwann wieder alles gut werden würde. Hajna hatte es geglaubt.Doch sie wollte nicht sterben. Sie würde kämpfen, bis zum Ende. Durchhalten, sich nicht ergeben. Kera würden diese Kannibalen nicht bekommen, ihr zartes Fleisch würden ihre Zungen nie zu spüren bekommen. Sie würde überleben. Das meistern, was Hajna vergeblich versucht hatte.
Dann, plötzlich stimmten die Wölfe in Keras Knurren ein, bevor sie aus der Dunkelheit hervorschnellten und ihre gebleckten Zähne das grelle Mondlicht widerspiegelten. Ohne ein weiteres Wort begannen sie die Zeremonie. Sie fingen an, Kera zu necken, sie zu beißen, sie zu quälen. Bleib stark. Für Hajna., redete sie sich immer ein und unterdrückte ein Jaulen. Wie Nadeln stachen ihre Hauer durch Keras Haut und sie spürte, wie eine warme Flüssigkeit heraus sickerte, welche ihr Fell verklebte. Angst verspürte sie keine, nur den Drang, sie dafür büßen zu lassen, ihre Tante umzubringen. Die heiße Wut kochte in ihr auf, wie das Wasser eines Geysirs, sie wartete nur darauf, herauszubrechen.
Kera wandte sich nach links um, damit sie einen der Wölfe von ihrem Hinterbein abschütteln konnte. Nur aus dem Augenwinkel musterte sie ihren Angreifer. Ihr Vater Garil knurrte sie an, blind vor Hunger erkannte er nicht, dass er auf seine eigene Tochter losgegangen war. Doch hier nahm niemand auf Freundschaft oder Familie Rücksicht, das einzige, was zählte, war es, zu überleben. Früher bestand das Rudel aus neunzehn Tieren, nun waren sie durch die tödlichen Zeremonien auf zehn Mitglieder geschrumpft.
Auf einmal wurde Kera von einem schwarzgrauem Wolf umgeworfen, er hatte sich von hinten genähert; sie war so mit den Anderen beschäftigt gewesen, dass sie ihn nicht bemerkt hatte. Ihr Körper sackte unter seinem massigen Gewicht zusammen und sie prallte auf den kalten Boden, welcher aus Erde und kleinen Steinen bestand. Überall waren Blutflecken verteilt.
Der Anführer stützte sich mit seinen großen Pranken auf ihre Schultern, sodass sie unfähig war, zu fliehen, er nahm dabei keine Rücksicht darauf, dass seine langen Krallen sie vielleicht verletzen konnten, für ihn war Kera nun kein Rudelmitglied mehr, sondern nur eine armselige Beute. Mit einem kurzen Heulen berichtete er den anderen, dass Kera so gut wie erledigt war. Sie gesellten sich zu ihm und blickten spöttisch auf die braune Wölfin hinab. Mehrmals versuchte sie, sich zu erheben, doch es hatte keinen Sinn, sie war zu schwach; ihre letzte Mahlzeit war länger her, als die der anderen Wölfe. Sie hatte sich geweigert, von Hajnas Kadaver zu fressen. Ihre Krallen kratzen vergeblich auf dem Boden herum. Es war zu spät.
Schon näherte sich der Kiefer des Anführers Keras Genick. Die anderen Wölfe heulten erfreut auf. Es war das letzte Mal, dass sie sie heulen hören würde. Leise, ganz leise stimmte sie ein. Es war zwar kein Siegesgeheul, doch auch kein verzweifeltes. Es war ein Abschiedsgruß an ihre Familie, die sie nicht mehr als Tochter oder Schwester ansah, sondern nur als Futter. Seit die Hungersnot ausgebrochen war, mutierten sie zu kaltblütigen Bestien. Nur Kera war sich selbst treu geblieben. Nie war sie so herzlos gewesen und brachte Rudelmitglieder um. Nein, so eine war sie nicht!
„Still!", knurrte Garil und schnellte hervor, um ihr auf die Schnauze zu beißen. Es war das erste Mal, dass jemand etwas während ihrer Zeremonie gesagt hatte. Für die meisten Wölfe war die Beute es nicht Wert, dass man ihr gegenüber ein paar letzte Worte aussprach. Kera wehrte sich nicht. Ein stechender Schmerz durchzuckte sie und von ihrer Nase tropfte Blut auf die Erde.
„Garil...bitte verschone mich. Ich bin deine Tochter!", hauchte sie verzweifelt. Sie hatte versagt, das wusste sie. Alle Hoffnung gab sie auf. Nur um Überleben flehen konnte sie jetzt noch. In seinen gelben Augen stand nichts von Mitgefühl, nur der Ausdruck von Blutdurst und Hunger. Blind war er geworden, wie alle anderen hier.
„Still, hat dein Vater gesagt, hörst du nicht?!" Der schwarzgraue Wolf schnappte ebenfalls nach Keras Schnauze, doch sie wandte sich weg, versuchte, sich umzudrehen und aus seinen Fängen zu befreien, doch es hatte keinen Zweck, sie schaffte es nicht. Sie jaulte erneut auf, es erfüllte die Nacht mit einem tragischen Klang. Ihrem tragischen Klang. Etwas tropfte aus Keras graugrünen Augen und vermischte sich mit ihrem Blut. Eine Träne nach der anderen rollte über ihre Wangen.
„Beenden wir es jetzt.", wisperte der große Wolf. Garils Kiefer umschloss ihr Genick und seine großen, bedrohlichen Zähne bohrten sich durch Keras blutdurchtränktes Fell. Es gab kein Entkommen. Es tut mir leid Hajna... ich habe es nicht geschafft. Alles wurde schwarz; den Schmerz nahm sie gar nicht mehr wahr.

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Wolfsherz *Woodwalkers-Fanfiction* ABGEBROCHEN
FanfictionAn seinem 13. Geburtstag erfährt Joaron nicht nur, dass er ein Drilling ist, sondern auch von der Welt der Gestaltwandler. Seine Eltern und er sind sogenannte Wolfswandler, das heißt, sie haben eine Menschen- und eine Wolfsgestalt. Seine Geschwister...