Kapitel 1

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,,Seine Augenlider sind zart geschminkt. Den Lidstrich hat er mit schwarzem Eyeliner perfekt nachgezogen. Seine blauen Augen blicken verträumt auf seine Hände, die er vor sich auf den Tisch gelegt hat und wirken wie ein Bild, welches er kunstvoll eingerahmt hat. Wenn er spricht fährt er sich gedankenverloren durch seine fast schulterlangen, hellblonden Haare, die wie eine Krone um seinen Kopf liegen. Auch seine Hände sind nicht 08/15. Auf jedem Finger hat er einen Buchstaben tätowiert, so dass seine Hände zusammen crie babi buchstabieren...''

Nach dem zweiten Satz war bereits der halbe Raum in Gelächter ausgebrochen und spätestens bei der Hälfte hatte ich mein Gesicht in den Ärmeln meines Hoodies versteckt, während wir zuhörten wie Lina mich für das Interview in der Schülerzeitung beschrieben hatte. Die anderen Vier kamen aus dem Kichern gar nicht mehr heraus und Miko brachte unverständlich hervor: ,,Damit hast du die Verkaufsquote der Schülerzeitung um mindestens die Hälfte gesenkt. Das kauft doch keiner von den Kleinen.''

Lachender Zuspruch kam aus allen Ecken des Raumes, während Lina das Manuskript zusammengefaltet in ihre Tasche steckte und selbst kaum ein Lachen verhindern konnte. Ich ließ mich ebenfalls etwas mitreißen und kicherte leise vor mich hin.

,,Schaut mal Sami an!'' rief Nadja und zeigte auf mein Gesicht, welches vermutlich feuerrot war, woraufhin wieder alle lachten. Ich verdrehte die Augen und griff zu der Flasche auf dem Tisch, um einen Schluck zu trinken, was mit einem Pfiff von Ole kommentiert wurde als ich es direkt wieder ausspuckte.

,,Was ist das?'' fragte ich angewidert, während ich die Flasche ganz weit von mir weg schob und mit noch immer verzogenem Gesicht in die Runde sah. Schon wieder lachten alle und ich wusste nicht, ob das mittlerweile daran lag dass der Alkohol wirkte oder ob ich wirklich so witzig war. Miko deutet auf das handgeschriebene Etikett der Flasche, welches ich allerdings kaum entziffern konnte, aber durch die Reaktionen der Gruppe konnte ich es mir denken.

,,Was sagen deine Eltern dazu, dass dein Bruder seinen eigenen Alkohol produziert?'' fragte ich Miko, wohlwissend dass ich Pascal auch selber fragen konnte, schließlich saß er mit seiner Gitarre vor dem Kamin und versuchte sie zu stimmen. In seinem Zustand von rauschender Bekifftheit war beides mit ziemlicher Sicherheit keine gute Idee.

Miko zuckte mit den Schultern und gähnte, was mich dazu verleitete aufzustehen um mein Handy von der einzigen uns bekannten Steckdose im Haus zu holen. Sobald ich es anschaltete sah ich die verhängnisvollen Nachrichten:

Samuel wann kommst du nach Hause?

Samuel antworte bitte

SAMUEL WEBER

17 verpasste Anrufe in Abwesenheit: Spawnpoint

Warum ich meine Mutter also Spawnpoint eingespeichert hatte, war eine ganz andere Geschichte, aber daran dachte ich seit Jahren schon nicht mehr. Mit dem Handy in der Hand betrat ich das Wohnzimmer wieder und sah Miko mit beinahe flehendem Blick an. Nach all der Zeit die wir uns kannten, verstand er sofort und nickte. Ich ließ mich wieder auf die Couch fallen und meine Beine über die Armlehne baumeln. Die Gespräche, die von Gelächter geprägt waren, verschwammen in meinem Kopf zu einem klebrigen Haufen während ich die Augen schloss.

Ein Klirren gefolgt von mehreren Flüchen ließ mich in Millisekunden aufrecht auf der Couch sitzen. Was war das? Wurde eingebrochen? War jemand verletzt? Auf den ersten Blick lagen alle dort, wo sie am Abend noch gesessen hatten, selbst wenn es der Boden war. Ich atmete einmal kurz durch und sah mich genauer um. Da fiel es mit auf. Pascal. Pascal fehlte. Ein Blick aus dem Fenster verriet mir, dass es schon lange nach Sonnenaufgang war, allerdings schien ich neben Pascal der einzig wache Mensch in diesem Haus zu sein. Ich schwang meine Beine über die Lehne und stand mit dem Schwung aus der Bewegung auf. Fast wäre ich wieder auf die Couch zurück gefallen und kurz wurde mir schwarz vor Augen, aber ich blieb ruhig stehen und atmete tief durch, bevor ich mich auf den Weg zur Küche mache.

Ich blickte auf einem am Boden knienden Pascal, der mit einem Geschirrtuch versuchte Scherben von etwas aufzuheben, was vermutlich mal ein Glas gewesen war. Ich seufzte, kniete mich vorsichtig neben ihn und nahm ihm das Geschirrtuch aus der Hand. Direkt fiel mir auf, dass er nicht wirklich klar war. Seine Alkoholfahne konnte man zwanzig Meilen gegen den Wind riechen und seine Bewegungen wirkten wie die eines Schlafwandlers. Ich zog ihn vorsichtig hoch, versuchte es zumindest, aber er wehrte sich mit aller Kraft und machte es mir so unmöglich ihn zu bewegen.

,,Lass mich'', nuschelte er kaum hörbar, aber ich schüttelte nur den Kopf und deutete auf die Treppe, die hoch in die obere Etage führte. ,,Legt dich wieder hin'', meinte ich und platzierte das Geschirrtuch aus seiner Reichweite. Es kostete mich einige Minuten an Überzeugungsarbeit ihn endlich davon zu überreden in sein Bett zu gehen, doch als ich hörte wie sich die Tür schloss atmete ich auf. Er war sicher in seinem Zimmer, solang er da blieb war alles gut. Ich holte den Handfeger aus der Besenkammer und schloss die Tür zum Wohnzimmer, in der Hoffnung den verkaterten Haufen darin nicht zu wecken.

Es kostete mich eine halbe Stunde bis ich mir sicher war, dass alle Scherben aus der Küche verschwunden waren. Ich brachte den Feger zurück und sah durch die Schränke. Erdbeeren, Quark, Salzstangen und Tee. Ich schnitt die Erdbeeren und mischte sie in den Quark, legte die Salzstangen in einen der Plastikbecher und füllte eine Karaffe mit Mineralwasser, währenddessen brühte ich eine Kanne Tee. Wirklich viel würde heute nicht passieren, das war mir klar. Jeder in unserer Gruppe trank  viel und gerne, außer mir. Es blieb also meistens an mir hängen dafür zu sorgen, dass alle den Tag überlebten.

Ich stellte mein wunderbar angerichtetes Frühstück auf das Tablett - Gläser und Tassen waren meiner Erinnerung nach im Wohnzimmer - und machte mich auf den Weg zu den verbliebenen Vier.

,,Aufwachen, sonst kommt ihr den ganzen Tag nicht hoch.'' versuchte ich die Anderen zu wecken, während ich Gläser und Tassen aus dem Schrank holte. Ole und Nadja waren wach sobald ich mich umdrehte, wie immer. Nadja setzte sich auf und Lina hatte ihr Kissen schneller im Gesicht als Irgendeiner schauen konnte. Sie setzte sich schreiend auf und sobald sie die Lage gecheckt hatte, reichte es ihr anscheinend Nadja böse anzuschauen.

Trotz des ganzen Tumults war Miko auf wundersame Weise noch immer nicht aufgewacht. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Ole langsam zu einer Wasserflasche griff, die noch immer auf dem Boden stand. Ich schüttelte den Kopf und setzte mich zurück auf die Couch. Sobald alle - mit Ausnahme von Miko - endlich auf den Tisch und das Essen aufmerksam geworden waren, hatten sie sich direkt darum versammelt. Während alle anderen aßen, weckte ich Miko vorsichtig auf. Er war mit Abstand am meisten von dem Alkohol gestern betroffen.

Nach dem Frühstück waren alle mit Aspirin, Essen und allem anderen versorgt und wir saßen kollektiv auf dem Boden. Aus der Anlage klangen Lo-Fi Hip-Hop Beats und eigentlich waren wir alle nur auf Social Media. Ich hatte meiner Mutter einen langen Text geschrieben, davon, dass ich geschlafen hatte, es mir leid tat und ich heute Abend nach Hause kommen würde.

,,Sami...Wann warst du das letzte Mal auf einer Party?'' sprach Nadja mich überraschender Weise an. Ich starrte etwas überrumpelt auf mein Display und dachte dann nach.

,,Vor...Naja am Anfang der letzten Osterferien bei Ole.'' brachte ich noch immer verwirrt heraus.

,,Meine Eltern sind nächstes Wochenende nicht da und ich plane da eine kleine Party zu machen. Kommst du auch? Ich muss planen wie viel ich einkaufen muss und ob alles andere hinkommt. Platz technisch und so.''

Ich dachte nach. Außer Ole, Nadja und Miko wurde ich nie von irgendjemandem eingeladen. Lina durfte keine Partys feiern, dafür war ihr Haus zu teuer - zumindest wenn es nach ihren Eltern ging. Ich war seit mehreren Monaten auf keiner Party mehr gewesen und auf der Letzten waren nur wir sechs gewesen. Wie ich Nadja kannte, würde sie allerdings wieder die halbe Schule einladen. Sie konnte es sich leisten und sie war beliebt. Es war schon eine Überraschung, dass sie mit uns abhing und wir fragten uns oft genug warum sie es tat. Sie hatte andere,- einflussreichere - Leute, mit denen sie sich gut verstand. So viele Menschen wie es auf ihrer Party werden würden auf einem Haufen waren nicht wirklich etwas für mich und ich hatte keine Ahnung ob ich das überhaupt wollte. Es waren Sommerferien und ich war für den Großteil der Zeit von meiner eigenen kleinen Gruppe Verrückter umgeben. Auf einmal in einem Haus mit mehr als zweihundert Menschen zu landen war einfach ungewohnt.

Ich schaltete mein Handy aus und legte es neben mich, dann schaute ich auf meine Finger und meine Tattoos. Nach kurzem Überlegen sah ich zu Nadja und atmete durch.

,,Also...''

PrinceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt