5. Kapitel

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Novaya war nicht mit dem Flugzeug geflogen. Natürlich nicht. In einem engen Metallvogel, gefangen auf kleinsten Raum mit einem Haufen niederer Menschen? - Nein, das hätten diese nicht überlebt.
Stattdessen hatte sie von dem Element der Luft Nutzen gemacht und den Flug auf dem Dach des Flugzeugs verbracht.
Als sie am Horizont Landstreifen ausmachen konnte, setzte Novaya sich dann aber von der Maschine ab und ließ sich vertrauensvoll in das tiefblaue Wasser unter ihnen fallen.
Das strahlende Nass zog sie förmlich an. Sie durchbrach die beinahe glatte Oberfläche, tauchte tief hinab. Sofort nahm ihre Haut das lichtdurchlässige Blau des Wassers an. Alles, was man jetzt noch von ihr sehen konnte, war eine Silhouette, nur ein wenig dunkler, als das Wasser, das sie umgab.
Der Ozean hieß sie willkommen wie eine Mutter ihre Tochter, erhob Anspruch auf sie. Seine kalte Umarmung spendete ihr Kraft und vertrieb alle dunklen Gedanken, bis in ihrem Bewusstsein Tod, Schmerz, Hass und Verzweiflung nur noch eine verschwommene Erinnerung waren.
Novaya öffnete die Augen, ihre Sicht unter Wasser war klar. Fische schwammen zwischen ihren Füßen hindurch und um sie herum, streiften immer wieder mit ihren schuppigen Körpern ihre Haut. Sie hatten keine Angst vor Novaya, nahmen sie als Teil des Ozeans war.
Viel zu lange war es her, dass sie sich das letzte Mal im Meer hatte verlieren können. Die Marix in ihr konnte endlich wieder ihre Sehnsüchte stellen. Oh, wie hatte sie dieses Gefühl vermisst.
Für einen Moment breitete Novaya einfach die Arme aus, schloss fast schon träumerisch die Augen und gab sich ganz Limoia, der Göttin des Wassers, hin.
Novaya hätte für immer hierbleiben können - um sich von Strömungen mit treiben zu lassen, um mit den Fischen, Delfinen und Walen zu schwimmen und mit den Quallen zu tanzen, oder um im hellen Mondlicht zu baden. Wenn Stürme über das Meer peitschten und Blitze sie trafen, würden sie ihr keinen Schmerz zufügen. Hier gab es keinen Lord Nevar, Lean und den Widerstand. Keine Viena, die auf Novayas Verhalten und Entscheidungen angewiesen war, oder Erinnerungen an die Vergangenheit. Keinen Kampf um ein Reich, das langsam zugrunde ging. Und auch keine Menschen. Nur der endlose Rhythmus uralter Gewässer und das leise Grollen von Bestien in den dunklen Tiefen. Nur sie und das Wasser. Nur Novaya und der Ozean. Sie war der Strom, der Schaum und die Wellen. Sie war das Tosen, Flüstern und die Stille.
Sie war alles und nichts.
Für einen Moment schwebte sie zwischen Raum und Zeit. Doch dieser Moment war viel zu schnell vorbei und Novaya kehrte brutal in die grausame Realität zurück.
Nur eine einzige kraftvolle Bewegung reichte aus, um sie hoch an die Wasseroberfläche zu bringen. Eine Sekunde lang war sie überwältigt von dem Anblick, der sich ihr bot. Novaya trieb mitten im Meer, weit und breit war nur Wasser zu sehen. Sonnenstrahlen spiegelten sich auf der von oben aus der Luft glatt erscheinenden Wasseroberfläche und schienen Novaya ins Gesicht. Ganz automatisch hatte sie sich dem momentan seichten Wellengang angepasst und ihr Körper bewegte sich mit dem Ozean leicht auf und ab. Sie schmeckte Salz auf ihrer Zunge.
Die Luft roch frischer und trotz des Salzgehalts reiner, als die, die sie bisher in Ägypten in die Nase bekommen hatte. Dennoch reichte sie nicht an die Ascandrijas heran.
Novaya wandte sich in die Richtung, in die das Flugzeug weiter geflogen war und in der sie den Landstreifen hatte ausmachen können, den sie von hier unten aus aber nicht mehr sah. Dann tauchte sie wieder ab, tief hinunter und schwamm dann in Richtung Küste. Sie konnte den gesamten Weg zurücklegen, ohne einmal auftauchen zu müssen, um Luft zu holen. Als Marix konnte sie problemlos unter Wasser atmen. Auch wenn ihr der Müll, der ihr immer wieder entgegen kam, doch ein wenig zu schaffen machte. In Ascandrijas Gewässern gab es keinen Müll und Gifte, sie waren glasklar und rein. Die Kraft der Elemente hier auf der Erde war schon schwächer als in Ascandrija und die Menschen schwächten sie mit ihrem Eigennutz und mangelndem Umweltbewusstsein nur noch mehr. Das spürte auch Novaya, die viel weniger Energie als sonst aus dem Wasser tanken konnte als sonst. Ihr innerer Zorn auf die Menschen wuchs weiter, als ihr eine tote Schildkröte entgegen trieb, die laut dem Fischernetz, in dem sie verheddert war, wohl ein qualvolles Ende gefunden hatte.
Novaya griff nach dem Netz und befreite die Schildkröte daraus, bevor sie in ihrer Hand ihr sahaan sammelte und es restlos zerstörte. Dieses Netz würde keinen Schaden mehr anrichten können. Leider war es nur eines von vielen, die in den Gewässern der Erde herumtrieben und Meeresbewohnern ein grauenvolles Sterben bereiteten.
Um dröhnende Schiffe und wasserzerpflückende Boote machte sie einen weiten Bogen.
Sie nutzte die Kraft des Wassers, um noch schneller voranzukommen und schoss pfeilschnell durch das Meer. Je näher sie der Küste kam, desto mehr flachte das Wasser ab und sie konnte den sandigen Grund unter sich sehen, der immer wieder von ein paar Algen und Korallen bedeckt wurde. Novaya verlangsamte ihr Tempo und glitt dicht am Meeresgrund weiter voran. Die ersten Menschen kamen in Sicht, sie ritten auf bunten Brettern die Wellen, die sich über ihnen auftürmten und mit spritzender Gischt brachen. Novaya beobachtete sie einen Moment fasziniert, bevor sie weiter Richtung Ufer schwamm, hielt jedoch genügend Abstand um nicht gesehen zu werden. Viele Menschen tummelten sich am Strand und im Wasser nahe des Ufers, ein paar wagten sich auch weiter hinaus, jedoch nie zu weit. Novaya fand es amüsant, wie die Menschen sich vor den Launen des Ozeans und den Ungeheuern in seinen Tiefen fürchteten, wenn sie doch selbst die eigentlichen Gefahren für ihre eigene Art und sogar die ganze Welt waren.
Kinder spielten mit Bällen und spritzen sich gegenseitig Wasser ins Gesicht oder bauten Sandburgen, Frauen und Männer sonnten sich auf schmalen Liegen und Handtüchern oder lasen im Schatten aufgespannter Sonnenschirme ein Buch. Hellblaue Wellen ergossen sich seicht mit Schaumüberzügen über den Sand und umspielten die Füße der Menschen. Leichte, salzige Böen wirbelten vorwitzig ihre Haare auf und sorgten für eine angenehm kühle Brise an diesem heißen Sommertag. Sonnenstrahlen brachten das Wasser zum glitzern. Immer wieder wurde der sandige Grund aufgewirbelt, wenn Füße über ihn rannten und Novaya konnte sehen, wie kleine Fische dann immer schnell in eine andere Richtung davon stoben.
Das, was für die Menschen ein normaler Tag am Strand war, war für Novaya ein sonderbarer Anblick. Es war ein friedliches Bild, das sich ihr bot. Kindergeschrei und das leise Rauschen der Wellen und des Windes taten da keinen Abbruch. Nur, wenn man genau hinhörte, konnte man im Hintergrund den typischen Stadtlärm wahrnehmen.
Novaya war überrascht, das gab sie offen zu. Sie spürte eine leise Faszination für die Menschen und ihre Welt in sich aufkommen. Sie waren so....verschieden und doch gleich.
Ihre Faszination wandelte sich in Ärgernis und Wut um, als eine Plastiktüte an ihr vorbei trieb. Ihre Hand schoss vor, die Tüte verschwand in ihrer geballten Faust und zerbröselte in ihr zu hauchfeinem Staub, der von der nächsten Windböe davongetragen wurde und sich in Luft auflöste.
Novaya verstand einfach nicht, wie die Menschen so respektlos mit ihrer Umwelt umgehen konnten. Wie sie wissentlich ihr eigenes Lebenselixier zerstören konnten. Es war ihr schlichtweg unbegreiflich.
Vielleicht sollten die Drijanen, wenn sie ihr eigenes Heimatland vom dunklen Lord befreit hatten, diese Welt von ihren Zerstörern ebenfalls befreien und ein neues Zeitalter heraufbeschwören. Es wäre die Rettung dieser Welt. Ohne Menschen könnte die Natur wieder heilen und die Tierarten sich voll und ganz entfalten. Vielleicht würden sich in einigen Jahrhunderten auch neue Spezies entwickeln. Fest stand aber, ohne die vernichtende Rasse der Menschen würde die Erde ein viel besserer Ort sein. Und Novaya überlegte wirklich, dieser Welt, wenn ihre eigene gerettet war, von ihrer Last zu befreien. Die Erde war vielleicht nicht ganz so schön wie Ascandrija, aber sie war definitiv einer Rettung wert. Aber sie musste erstmal hintenanstehen. An erster Stelle kam Ascandrija. Wenn Nevar tot war, würde sie sich über diese Welt Gedanken machen.
Novaya tauchte langsam wieder unter und durchschwamm ein kleines Riff, bis zu einer abgelegenen von Felsen geschützten Stelle des Strandes. Die kleine Bucht war leer und Felsen ragten um sie herum auf, trennten sie vom Rest des Strandes ab, doch Fußspuren im Sand zeigten, das hier sehr wohl schon mal jemand gewesen war.
Wachsam sah Novaya sich noch einmal um, bevor sie an den Strand glitt. Sie spürte den Sand unter und zwischen ihren Fingern, als sie geschmeidig aufstand und ein paar Schritte weiter in die Bucht machte, sodass ihre Füße nicht mehr im nassen Sand standen. Mit ein wenig ihres sahaan waren ihre Hände und ihr ganzer Körper aber auch schon wieder sauber und trocken. Selbst ihre Haarspitzen hatten keinen einzigen Tropfen Feuchtigkeit mehr inne, nur der Geruch nach Salz gab einen Hinweis auf ihren Aufenthalt im Meer.
Sie drehte sich noch einmal um und blickte über die blauen, schimmernden Weiten des Ozeans. Wo das Wasser am Anfang noch einen sehr hellen, klaren Farbton hatte, ging es nach hinten immer mehr ins dunkle über, bis es dunkelblau wirkte.
Es reichte zwar nicht an das Farbenspiel des Meeres Ascandrijas heran, aber war durchaus einen Blick wert.
Erst der laute Schrei einer Möwe schreckte Novaya auf und schweren Herzens löste sie sich von dem vertrauten Anblick und dem geborgenen Gefühl. Das Wasser vermittelte ihr, genauso wie jeder anderen Marix auch, ein Gefühl von Zuhause und Geborgenheit, etwas das Novaya schon lange nicht mehr gefühlt hatte und sie eigentlich nur im Wasser oder in der Nähe ihrer kleinen Schwester fand. Bei dem Gedanken an Viena durchzuckte ihr Herz ein schmerzhafter Stich. Novaya vermisste sie, ihr fröhliche Art, ihr Lachen und die Wärme ihrer Umarmung. Viel zu lange war es schon her, dass sie sie das letzte Mal gesehen hatte und noch länger, dass sie in den Genuss eines der vorher aufgezählten Dinge gekommen war. Sehnsucht und Wehmut begannen ihren Geist zu fluten, doch mit ihr kam gleichzeitig die Verzweiflung und Bitterkeit, in dem Wissen, dass Novaya sie nicht hatte beschützen können. Wie es Viena wohl gerade ging? Versorgte Nevar sie auch wirklich gut genug? War sie vielleicht sogar gerade am verhungern oder verdursten? Oder am sterben, weil sie in ihrer Zelle keinen Kontakt zu den Elementen knüpfen konnte?
Ein zittriges Beben durchfuhr Novaya, sie wurde fast krank bei diesen Gedanken. Sie ballte die Hände zu Fäusten, ihre Fingernägel gruben sich in ihre Haut. Stop. Solche Gedanken mussten auf der Stelle aufhören. Sie bereiteten ihr nur Angst und Sorge, Empfindungen, die sie nur behinderten und die sie nicht fühlen durfte. Novaya musste daran festhalten, dass Viena noch lebte und es ihr gut ging. Nevar war schließlich nicht dumm. Er wusste, dass sie das einzige Druckmittel war, dass er gegen Novaya verwenden konnte und sie nach seiner Pfeife tanzen ließ. Ohne Viena sehe es da ganz anders aus. Er würde sie also nicht einfach wegsterben lassen. Lebend nützte sie ihm viel mehr.
Mit einem letzten Blick zurück kletterte sie auf die von der Sonne gewärmten Felsen und sprang auf der anderen Seite elegant herab. Barfuß lief sie über den heißen Sand, der ihr jedoch nichts ausmachte. Sie entfernte sich immer mehr vom Meer, lief dem Lärm aus der Ferne entgegen, bis ihr immer mehr Menschen entgegen kamen und sie eine Straße erreichte, den Sand gänzlich hinter sich ließ. Jetzt war das heimatliche Blau in der Ferne.
An ihren Füßen erschienen wieder Schuhe, da der sandige Untergrund zu festem Teer übergegangen war. Am Rand der Ocean Ave steuerte sie das belebte Innere der Stadt an. Zur Sicherheit hielt sie einen älteren Mann an und erkundigte sich bei diesem nach dem Namen dieser Stadt. Bei der Bestätigung huschte ein dunkles Lächeln über ihre Lippen.
Im Moment befand sie sich in Santa Monica in Los Angeles.
Los Angeles. Endlich. Jetzt musste sie nur noch den genauen Aufenthaltsort des Rebellenführers herausfinden. Und das war bei einer so großen Stadt wie Los Angeles sicherlich nicht ganz so einfach, wie sie sich das vorgestellt hatte. Aber sie wusste, wo sie beginnen musste.

 Novaya - Ascandrijas WiderstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt