Zwei Wochen sind seit der Schießerei vergangen. Ryder weicht mir nicht von der Seite, worüber ich auch sehr froh bin. Nachts plagen mich häufig noch Alpträume, in denen meist Ryder stirbt. Jedes Mal schrecke ich auf, jedes Mal beruhigt mich mein Freund. Zum Glück nehmen sie etwas ab. Ryders Mutter ist über den Tod ihres Mannes hinweg gekommen, auch ihre Kinder trauern ihrem Vater nicht hinterher. Steffen hat sich im Krankenhaus bereits mehrfach bedankt, dass ich auf den Tausch eingegangen bin. Auch ich habe ihm gedankt, schließlich hat er uns nicht im Stich gelassen. Unsere drei Gangs sind mittlerweile befreundet – ich hätte so etwas nie für möglich gehalten.
In meinem Leben herrscht wieder Normalität. Ich gehe regelmäßig zur Schule, verbringe die Nächte häufig bei meinem Freund zuhause oder er bei mir. Endlich können wir glücklich sein, ohne eine Bedrohung.
Heute Abend kommen Kristine, Ryan, Dyan, Kyle, David und ich zu Ryder und Lara. Wir möchten einen ruhigen Abend verbringen – eigentlich. Aber es kommt bekanntlich anders als man denkt.
Alles fängt mit einer Frage von Dyan an mich an: „Bist du weiterhin bereit für das Gangleben?"
Ich brauche gar nicht lange darüber nachzudenken, ich mag den Adrenalinkick. „Ja, ich bleibe drin."
Während sich Dyan freut, spannt Ryder sich an: „Meinst du wirklich, das ist eine gute Idee?"
„Ryder, ich brauche das in irgendeiner Form. Natürlich keine Schießerei, aber es würde mir etwas fehlen."
„Ich möchte das aber nicht", knurrt er nun.
Überrascht sehe ich ihn an. „Du führst selbst eine Gang an."
„Ja, aber ich hatte Angst um dich. Ich glaube, jeder hatte die. Das Gangleben ist gefährlich und ich möchte einfach nicht, dass ich eines Abends auf dich warte und du nie wieder kommst", erklärt mein Freund.
Klar, kann ich seinen Standpunkt verstehen. „Aber mir geht es bei dir nicht anders. Und komm jetzt nicht damit, ich wäre eine Frau."
Betroffen sieht mich Ryder an und sagt erst einmal gar nichts.
Nun mischt sich auch Kristine ein: „Natürlich hatte jeder Angst um Paddy. Jeder hat hier Angst um jeden, besonders natürlich Freund beziehungsweise Freundin. Aber ich glaube, das Leben ist noch gefährlicher, wenn wir austreten würden."
„Wie meinst du das?", fragt nun Ryan.
„Wir haben uns in der Vergangenheit Feinde gemacht. Feinde, die uns nie etwas antun, weil sie genau wissen, dass dann unsere Gang uns rächen würde. Würden wir aber austreten, wären wir in Gefahr", erklärt meine Freundin weiter.
„Verstehe ich irgendwie."
Nun mischt sich auch Lara in das Gespräch ein: „Ihr seid alle in einer Gang, ich würde auch gerne dazu gehören."
„Nein!", schmettert ihr Bruder diese Bitte sofort harsch ab.
„Aber ihr...", setzt Lara wieder an, doch sie wird unterbrochen.
„Ich habe nein gesagt", brüllt Ryder. Er hat sich mittlerweile vollkommen angespannt, seine Adern am Arm sind deutlich sichtbar.
Beruhigend lege ich meine Hand auf seine Schulter.
Auch David unterstützt seinen Boss, bevor der Streit weiter eskaliert: „Schau mal, hier sind alle in einer Gang und kommen nicht raus, aber wenn man erst gar nicht drin ist, sollte man auch nicht rein. Es ist besser so, Kleine." Die beiden Jungs nicken sich zu, bevor David fortfährt: „Ich würde trotzdem gerne aussteigen. Ich dürfte nicht viele Feinde haben und außerdem kann ich mich wehren. Ich möchte nicht, dass Lara noch in irgendetwas mit rein gezogen würde."
Endlich entspannt sich Ryder wieder. „Na klar, ich begrüße deine Entscheidung. Wenn irgendetwas ist, du erhältst jederzeit Unterstützung von uns."
Damit ist der Streit nun endgültig beendet und wir können wie geplant Filme schauen.
„Jackson steht mir gegenüber, Ryder seinem Vater. Wir haben gegenseitig die Waffen aufeinander gerichtet. Der erste Schuss fällt, drei weiter fallen. Ryder neben mir fällt um, auch ich stehe nicht mehr. Ich höre ein hämisches Lachen. Ganz dumpf vernehme ich, wie Ryder meinen Namen ruft..."
Völlig fertig wache ich auf. Ich liege in Ryders Armen auf der Couch, der mich besorgt ansieht. Dann nehme ich weitere Augenpaare wahr. Ich schließe erst einmal meine Augen, um tief durchzuatmen.
„Babe, es ist alles gut. Er kann uns nichts mehr tun."
Auch wenn ich das weiß, drücke ich mich erst einmal stärker an seine Brust. Seine muskulösen Arme vermitteln mir die Sicherheit, die ich jetzt brauche.
„Dieses halbe Jahr ist mehr passiert als in den letzten Jahren zusammen", sagt Kristine leise.
Ich höre wie jemand den Fernseher ausschaltet, während ich mich an Ryder gekuschelt beruhige. Dieser streicht mir immer wieder über meinen Rücken.
„Paddy frisst alles in sich hinein, stattdessen sollte sie wirklich darüber sprechen", meint Dyan etwas später.
Obwohl ich Ryder nicht ansehe, spüre ich, dass er nickt. „Ich möchte sie aber nicht drängen", antwortet er ganz leise. Da sich meine Atmung normalisiert hat, nehme ich an, er denkt, ich wäre wieder eingeschlafen.
„Verstehe ich. Aber du solltest ihr signalisieren, dass sie mit dir über alles sprechen kann", mischt sich Kyle ein.
Ryder seufzt. „Das tue ich, wirklich. Ich weiß doch auch nicht mehr weiter." Seine Stimme klingt niedergeschlagen und besorgt.
„Geb nicht auf. Damals hat sie dir von dem Autounfall erzählt. Deutlich ausführlicher, als sie es dann bei mir getan hat. Ich weiß nicht, ob es aufgrund der folgenden Ereignisse war oder weil sie darüber gesprochen hat, aber ihre Träume diesbezüglich haben deutlich abgenommen und sind dann verschwunden, oder?", muntert Kyle ihn auf.
Wieder nickt Ryder.
„Siehst du. Sie liebt dich und wird sich dir anvertrauen, ganz sicher. Als wir dir damals etwas vorgespielt haben, habe ich gespürt, wie sehr sie dich liebt. Eigentlich hatte ich gehofft, wir beide würden irgendwann aus der Scheinbeziehung eine echte Beziehung machen, aber es ist nun mal wie es ist. Sie liebt dich, nur dich."
Obwohl ich vortäuscht habe zu schlafen, kann ich meinen Mund jetzt nicht mehr halten: „Du hast mich geliebt?", frage ich Kyle verwirrt und hebe meinen Kopf, um ihn anzusehen.
Alle schauen mich erschrocken an, es hat wohl niemand gedacht, ich bekäme etwas mit.
„Ja, also...", stottert Kyle, „ja, ich hatte mich in dich verknallt. Aber ich wollte von Anfang an, dass du glücklich bist, dann bin ich es auch. Und wenn du dein Glück mit Ryder gefunden hast, dann akzeptiere ich das. Irgendwann werde ich die Richtige finden."
„Danke", ist das einzige, was ich dazu sagen kann. Ich habe zwar schon immer gewusst, dass Kyle mich mag, aber dass er sich in mich verknallt hatte, ahnte ich nicht.
Nach ein paar Minuten verabschieden sich die Jungs und Kristine, sodass nur Ryder und ich zurückbleiben. Lara wird bei David übernachten und hat somit das Haus ebenfalls verlassen.
Mein Freund greift mir unter die Kniekehlen und hinter meinen Rücken und trägt mich so im Brautstyle nach oben ins Bett, wo er sich zu mir legt.
Kurz denke ich noch einmal über das Gespräch nach, was er mit den Anderen geführt hat und fasse einen Entschluss: Ich muss mit ihm über die Geschehnisse reden. So kommt es, dass ich über alle negativen Ereignisse mit Beginn des Autounfalls im Sommer spreche. Auch meine Vergangenheit mit Tyler und Jackson lasse ich einfließen. Während ich spreche, ist Ryder ganz still. Ich würde ihn gar nicht wahrnehmen, hätte er nicht seine starken Arme um mich geschlungen, die mich an seine warme Brust drücken. Auch als ich fertig bin und mir stumm die Tränen übers Gesicht laufen, sagt er nichts. Ryder zieht mich lediglich etwas weiter nach oben und küsst mich. Ich muss gestehen, dass es mir sehr gut tat, über all das zu sprechen, ich fühle mich erleichtert.
„Danke", murmele ich schließlich gegen seine Lippen.
„Nicht dafür. Ich liebe dich.", haucht er mir ins Ohr.
„Ich liebe dich auch", flüstere ich ihm ebenfalls zu.
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Paddy, ist Liebe berechenbar?
TienerfictiePatricia Grasecker, von ihren Freunden liebevoll Paddy genannt, tritt das letzte Schuljahr nach ereignisreichen Sommerferien an. Eigentlich möchte sie ihrem Erzfeind Ryder Grant, der ebenfalls an dieser Schule sein Abitur absolvieren möchte, aus dem...