1. Der Anfang vom Ende

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Es war dunkel, die Nacht war bereits angebrochen und einzig der Mond spendete dem kleinen Raum etwas Licht. Im Zimmer war es bitterkalt – ähnlich den Temperaturen außerhalb des Hauses. Ein modriger Geruch lag in der Luft, vermischt mit dem des Schimmels und einer Note von Zigarettenrauch.

Der Raum war nur spärlich eingerichtet. Auf der einen Seite stand ein Kleiderschrank, der seine besten Zeiten bereits hinter sich hatte und eine seiner Türen längst aus dem Scharnier gerissen wurde. Ein kleiner Tisch, auf dem allerlei Krempel lag und dazu ein Stuhl, bei dem man jederzeit Angst haben musste, dass er unter dem eigenen Gewicht zusammenbrechen könnte. An der dunklen Wand, dort wo das Licht des Mondes kaum durchdrang, lag eine alte Matratze – sie war längst durchgelegen und dreckig, voller Flecken.

Und genau auf dieser Matratze, die halb bedeckt von einer löchrigen Decke war, lag ein Kind. Sein Körper zitterte durch die kalte, winterliche Nacht. Die kleinen Händchen hielten sich bibbernd an das armselige Stück Stoff. Er war unfreiwillig aus seinem Schlaf gerissen worden. Etwas hatte den blonden Jungen aufgeschreckt. Er schluchzte, kleine Tränen kullerten seine Wangen hinunter und landeten schlussendlich auf dem etwas, was sich Kissen schimpfte. Desorientiert ließ er seinen goldenen Blick durch den Raum wandern, der zu guter Letzt auf der Tür verharrte, unter der etwas Licht hindurch schien.

Durch die geschlossene Tür drangen Geräusche an die Ohren des Jungen. Es war der Fernseher, der im Zimmer nebenan eingeschaltet war. Allem Anschein nach, war sein Vater zurück nach Hause gekommen. Nichts was an der Situation des Jungen ändern würde. Denn dieser Mann war niemand, zu dem Keigo gerne gehen würde.

Menschliche Wärme, Zuneigung oder Liebe, suchte man bei ihm vergeblich. Vermutlich war er sogar der Grund dafür, dass der kleine Junge aus seinem Traum gerissen worden war. Weitere Angst durchflutete Keigo, er schloss die Augen und zog sich die schäbige Decke noch ein Stück weiter über das Gesicht.

Er zwang sich dazu, sich zu beruhigen, ehe sein Erzeuger noch auf die Idee kommen würde, ihm einen nächtlichen Besuch abzustatten. Die Vermutung, dass der ältere Mann unter Alkoholeinfluss stand und sowohl seine Wut, als auch den Frust an seinem Sohn auslassen könnte, lag nah. Keigo hatte es schon oft genug erlebt, hatte daraus gelernt und verhielt sich still. Sein Rücken schmerzte noch vom letzten Wutausbruch des Mannes – mehr konnte sein kleiner Körper nicht ertragen.

Keigo hatte nie verstanden, was er falsch gemacht hatte. Doch eins wusste er: Es begann alles, nachdem seine Mutter gestorben war und ihn allein zurückgelassen hatte. Sie war die einzige Stütze gewesen, die er hatte. Die einzige Person, die ihn nicht verurteilte oder wie ein Monster angesehen hatte. Seit er sich erinnern konnte, war er eingesperrt, durfte nicht nach draußen, um mit anderen Kindern zu spielen.

Schuld daran waren die seltsamen, roten Flügel, die auf seinem Rücken wuchsen. Jene, die immer wieder Opfer der Gewaltausbrüche seines Vaters wurden und auch jetzt im Moment schmerzhaft zuckten. Keigo war sich bewusst, dass seine Mutter ihn nur schützen wollte. Schutz vor Menschenhändlern, die Kinder, wie er eines war, entführten, um diese auf illegalen Veranstaltungen zu verkaufen und damit viel Geld zu verdienen. Menschen, die besondere Merkmale hatten. Sie erzielten auf dem Schwarzmarkt besonders hohe Summen. Man hörte nicht selten von Entführungen von solchen Kindern – selbst Erwachsene waren nicht sicher.

Im Grunde würde es ihn nicht wundern, wenn sein Vater eines Tages auf die grandiose Idee kommen und ihn einfach verkaufen würde – angedroht hatte er es bereits mehrmals. Arm waren sie schon immer gewesen, auch als seine Mutter noch gelebt hatte. Doch da war das Leben noch erträglich gewesdn. Das Geld war zwar immer knapp, doch immerhin reichte es für das Nötigste. Nach ihrem Ableben fing sein Vater an zu trinken. Immer mehr Geld floss in die falschen Dinge, immer mehr versuchte der Mann seinen Kummer im Alkohol zu ertränken. Und Keigo bekam es immer am eigenen Leibe zu spüren.

Das Lächeln des Jungen mit den Flügeln war schon lange gestorben, seine Augen hatten den Glanz verloren und die Hoffnungen auf ein besseres Leben waren geplatzt, wie eine Seifenblase. Jeglicher Lebenswille verloren. Wenn er doch nur fliegen könnte. Die Schwingen ausbreiten und einfach fortfliegen, getragen vom Wind. Irgendwohin. Dort, wo ihn keiner mehr finden würde.

Alles armselige Träumereien. Die Flügel hatte man ihm gestutzt – nicht, dass er jemals gelernt hatte zu fliegen. Im Grunde wusste er nicht einmal, ob das möglich war. Und trotzdem stutzte sein Vater jedesmal aufs Neue die roten Federn. Wieso? Das wusste einzig und allein dieser Mann. War es vielleicht Angst, dass Keigo eines Tages einfach wegfliegen würde? Ihn, den gebrochenen Mann, allein zurücklassen könnte?

Der Junge versuchte, seine Gedanken wieder zu ordnen. Die Tränen waren bereits versiegt und das Schluchzen erstarb, er hatte sich beruhigt. Wusste er doch, dass es nichts brachte, sich in den Schlaf zu weinen. Sein kleiner, ausgemergelter Körper war ohnehin geschwächt und so starrte er mit leeren Blick vor sich hin, fixierte einen Punkt in der Dunkelheit.

Das alles war einfach nur armselig, ihm tat alles weh, er war müde, erschöpft und furchtbar hungrig. Doch er würde nicht aufstehen, vermutlich fände er ohnehin nichts Essbares im Haus.

Langsam schloss er die brennenden Augen und seufzte. Er bemerkte nicht einmal, wie er wieder in den Schlaf fiel. Immerhin war dieser ein Abbild dessen, was sich der gerade einmal zehnjährige Junge so sehr wünschte. Nicht mehr ein Vogel zu sein, den man in einen Käfig gesperrt hatte. Nein, dort war er frei, flog unter den blauen Himmel und unter ihm die schönsten Landschaften.

𝖲𝗈𝗅𝖽 || 𝖵𝖾𝗋𝗄𝖺𝗎𝖿𝗍Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt