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V I E R

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Damit will er mich schon stehen lassen, doch mit einer Sache hat er nicht gerechnet: meiner angestauten Frustration. Meiner Wut darüber, dass kein einziger Bürger Bonding Hills es je für nötig erachtet hat, mich ernst zu nehmen. Meiner Wut darüber, dass meine eigene Mutter mich wie Dreck behandelt.

Oh, nein, Kane hat nicht mit dieser Wut gerechnet, die stetig auf Sparflamme vor sich hinschwelt und langsam, aber sicher ihren Weg nach draußen sucht.

Und jetzt kommt auch noch er, der meint, mich dumm anraunzen zu können.

Es fühlt sich an, als hätte ich Feuer statt Blut in den Adern, als ich ihn an der Schulter packen und zurückziehen will. Zu fassen kriege ich letztendlich nur den dünnen Stoff seines T-Shirts. Ich spüre, wie sich meine spitzen Fingernägel in die Muskeln seines Rückens graben, bis sie abschrappen und sich nur noch in den schwarzen Stoff krallen. Er hält inne.

Langsam dreht er sich um, Blitze in den Gewitteraugen. Und in diesem Moment weiß ich, dass es wirklich sehr, sehr dumm war, meine Aggressionen an Kane auszulassen. Was zur Hölle habe ich mir dabei gedacht?

Gar nichts, DAS ist die Wahrheit.

Für den Bruchteil einer Sekunde verspüre ich nichts als blanke Angst. Doch der Moment vergeht ebenso schnell, wie das irre Glitzern in seinen Augen. Was wird er jetzt tun?

Nichts. Wir sind schließlich von einer Menge anderer Menschen umgeben.

»Gibt es hier ein Problem?«

Wie von der Tarantel gestochen fahre ich herum. Toll, der hat mir gerade noch gefehlt.

Kane schüttelt den Kopf, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. »Nein, alles bestens, Ray.«

Ich stutze. Er nennt meinen Chef Ray? Das kann nur eines bedeuten: die beiden kennen sich. Mister Marsh (wie ich ihn übrigens nenne), lässt sich im Grunde genommen nie beim Vornamen anreden. Zumindest habe ich es bisher selten gehört. Außer Steven nennt ihn eigentlich keiner so. Er wirft mir einen letzten skeptischen Blick zu, klopft Kane flüchtig auf die Schulter und geht dann.

Sobald er außer Hörweite ist, murmle ich irritiert: »Woher... kennst du ihn?«

»Ich wüsste nicht, was dich das angeht, aber wenn du's unbedingt wissen musst: Ray ist über paar Ecken mit mir verwandt. Ich wollte etwas mit ihm besprechen.«

»Das erklärt einiges«, rutscht es mir heraus. Zum Beispiel, von wem du dein Sympathie-Gen geerbt hast.

Kane sieht mich einen Augenblick irritiert an, dann schüttelt er den Kopf und geht – natürlich nicht, ohne mir noch einen allerletzten abfälligen Blick zuzuwerfen. Als er außer Sicht ist, atme ich auf.

Er denkt sicherlich, dass ich einen an der Klatsche habe, einen ordentlichen Sprung in der Schüssel – schließlich habe ich ihn wie eine Furie am Shirt gepackt und dann nicht mal ein Wort rausgebracht. ›Wirklich toll gemacht, Stella‹, denke ich bitter.

Aber eigentlich ist es mir egal, was er denkt. Und er hätte es verdient, dass ich ihm ordentlich die Meinung sage. Dass ich ihm sage, was ich von seinem ungehobelten Benehmen halte! Stattdessen habe ich einen Rückzieher gemacht, sobald er sich umgedreht und mich mit seinem Blick erdolcht hat. Wie feige ich doch war.

Ich schaffe es gerade noch so rechtzeitig auf die Bühne. Die Band wirft mir schon unruhige Blicke zu. Das Klacken meiner Pfennigabsätze geht im Lärm des Golden unter, als ich auf das Mikro zugehe.

Ich kann Kane im Publikum nicht entdecken. Und trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass er mich gerade in diesem Moment ansieht.

...

LacunaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt