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S E C H S

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»Adam? Wo... nein. Nein, nein, nein, NEIN, BITTE NICHT! ADAM! Wach auf, wach auf, wach auf–«

Ich öffne die Augen.

Schwarze Zacken von Tannenästen bilden einen Rahmen um den Nachthimmel über mir.

Ich atme schwer und spüre, wie dicke Tropfen auf mein Gesicht prasseln und die Nachtluft meine komplett nasse Haut kühlt.

Ich schnuppere in der Luft und rieche Regen und auch den herben Geruch von Tannennadeln.

Ich bin im Wald. Schon wieder.

Ich kneife die Augen zusammen, so fest, dass es schon fast wehtut. Doch all das bringt nichts – die Stimme meiner Mutter will einfach nicht aus meinem Kopf verschwinden. Ich werde mein Leben lang niemals vergessen können, was für eine überwältigende Pein in ihren Worten lag. Ein Schmerz, der mich selbst sechzehn Jahre später noch überwältigt.

Resigniert setze ich mich auf und wische mir den feuchten Dreck von den Beinen.

Über meinem Nachthemd habe ich immer noch Kanes Hoodie an und die dicken Socken, die er mir gegeben hat, sodass mir nicht mehr gar so kalt ist, wie bei den letzten beiden Malen. Trotzdem bin ich von Kopf bis Fuß durchnässt, also werde ich mir höchstwahrscheinlich eine üble Erkältung (und im schlimmsten Fall noch eine Blasenentzündung obendrauf) holen.

Während ich versuche mich zu orientieren, rückt die Erinnerung an damals in den Hintergrund und macht einer schwelenden Unruhe Platz.

Es gibt verrückte Zufälle. Und dann gibt es Begebenheiten, die beim besten Willen nicht zufällig sein können.

Allerdings bin ich mir nicht ganz sicher, unter welche Kategorie das hier fällt.

Dreimal bin ich schon in den Wald geschlafwandelt und das auch noch hintereinander – um genauer zu sein auf Kane Andersons Grundstück. Gut, ich muss einlenken, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich mich in diesem Moment tatsächlich wieder dort befinde. Meine Bemühungen, das herauszufinden, haben bisher nicht gefruchtet – ich bin orientierungslos wie eh und je.

Seufzend laufe ich los. Wenigstens scheint sich das Gewitter verzogen zu haben. Regnen tut es leider trotzdem noch wie aus Kübeln.

Ich muss ehrlich zugeben, dass ich mir nicht sicher bin, ob das eine so gute Idee ist. Allerdings halte ich sie immer noch für besser, als lediglich herumzustehen und abzuwarten.

Während ich laufe, denke ich nach. Es ist wirklich bemerkenswert, dass ich diese Strecke von mir zu Hause aus hingelegt habe... mit dem Auto ist das zwar nur ein Katzensprung, aber zu Fuß ist sie nicht zu unterschätzen. Im Stillen danke ich Gott dafür, dass er dafür gesorgt hat, dass ich nicht von einem Blitz dahin gestreckt wurde.

Ich kann sehr gut verstehen, dass Schlafwandeln von Außenstehenden als gruselig empfunden wird. Obwohl ich es schon seit geraumer Zeit am eigenen Leibe erfahre und mich auf dem Gebiet bestens auskenne, werde ich mich niemals daran gewöhnen können.

Der Gedanke, dass mir kontinuierlich eine gewisse Zeitspanne meines Lebens einfach fehlt, macht mich fast verrückt. Es ist ein überwältigendes Gefühl von Machtlosigkeit, welches mich wie eine Lawine überrollt, jedes einzelne verdammte Mal.

Ein Rascheln im Unterholz bringt mich dazu, wie angewurzelt stehen zu bleiben. Mit weit aufgerissenen Augen starre ich den schemenhaft erkennbaren Grund zu meinen Füßen an und lausche konzentriert.

Das ist die Bärin, von der Kane gesprochen hat.

Jegliche Anweisungen, wie in einer solchen Situation zu handeln ist, sind aus meinem Kopf gefegt, als wären sie nie da gewesen. Mein Herz wummert kraftvoll in meiner Brust, so heftig, dass es mein Blickfeld verwackelt..

LacunaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt