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D R E I

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Am Morgen wache ich gerädert, wie sonst was, auf.

Müde schlurfe ich ins Bad und zucke vor meinem eigenen Spiegelbild zurück.

Wow, vor mir würde wohl selbst ein Poltergeist das Weite suchen.

Mit einem resignierten Seufzer beuge ich mich über das mit Sprüngen übersäte Waschbecken und lasse das kühle Nass in meine Handinnenflächen strömen. Ich wasche mir übers Gesicht, einmal, zweimal, dann trockne ich mich ab. Anschließend schaue ich wieder in den Spiegel.

Nun gut, die Augenringe werden wohl für immer ein Teil von mir sein. Aber wenigstens sehe ich jetzt wieder so aus, als würde ich leben. Hoffentlich kann ich tagsüber noch etwas Schlaf nachholen, bevor ich zur Arbeit muss. Die Gäste wären sicher nicht begeistert, einen Zombie von einem Meter achtzig Größe auf der Bühne singen zu sehen.

Ich arbeite im The Bonding Hills Golden Nights, kurz das Golden, wie es von allen genannt wird. Ich habe wirklich keinen blassen Schimmer, wer sich diese Namen ausgedacht hat, der glatt länger als meine Zukunft ist. Ich singe dort jede zweite Nacht, sodass ich keine festen Arbeitstage in dem Sinne habe. Die Bezahlung ist mies, aber sie könnte noch mieser sein.

Zudem komme ich meiner Leidenschaft, dem Singen, bei diesem Job so nah, wie ich ihr in dieser Kleinstadt eben kommen kann. Ich singe abgedroschene, jazzig angehauchte Klassiker, die sich nahtlos in das ebenso abgedroschene, jazzig angehauchte Ambiente einfügen... aber ich singe. Und das ist das Wichtigste für mich.

Nach der Schule wusste ich immer noch nicht, was ich wollte. Eine Ausbildung kam für mich nicht infrage. Ein Studium konnte ich mir vorstellen, allerdings hatte ich keine Ahnung, was ich studieren wollte.

Ich bin nicht naiv. Mir ist klar, dass ich mit dem Singen allein nie mein Brot verdienen könnte. Ich strebe keine Karriere als Sängerin an, auch, wenn mir die Idee zugegebenermaßen sehr gefällt. Aber von Träumen wird man nun mal nicht satt.

In der Bar mit meinem Gesang Geld zu verdienen ist trotzdem die beste Übergangslösung, die sich für mich ergeben hat. Ich mache das so lange, bis ich mich entschieden habe, wie es weitergehen soll. Es ist zwei Jahre her, dass ich meinen Highschool-Abschluss bekommen habe. Ich muss zugeben, dass der Druck stetig steigt – der Druck von außen, aber besonders der Druck von innen... der Druck, den ich selber mir mache.

Ich schüttle den Kopf. Es bringt nichts, sich jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen. Es gibt viel zu tun.

Tagsüber kümmere ich mich um den Haushalt: Ich wasche Wäsche, putze, koche, staubsauge... es gibt wirklich immer etwas zu tun.Wer sich nicht auskennt, sich wundern, was für einen Berg an Arbeit es mit sich bringt, einen Haushalt zu führen.

Meine Mutter sitzt meistens vor dem Fernseher und schaut Der Preis ist heiß, manchmal auch die Kardashians. Durch das Rheuma hat sie fast bis überhaupt keinen Antrieb, sich in irgendeiner Form zu bewegen.

Als ich mich während sie Fernseher sah, einmal zufällig in ihrer Nähe aufhielt, brummte sie: »Wow, diese Schnepfen sind ja noch hohler als du.« Ich habe es als eine Art verdrehtes Kompliment aufgefasst. Allerdings fand ich das etwas gemein, den Schnepfen gegenüber – wer weiß schon, was sie im Herzen plagt, was für ein Päckchen sie zu tragen haben?

Heute wartet ein ganzer Berg an Klamotten darauf, von mir gebügelt zu werden, allen voran das Kleine Schwarze, welches ich am Abend auf der Bühne tragen werde. Es gefällt mir sehr gut, ich würde sogar so weit gehen, es mein Lieblingskleidungsstück zu nennen.

Der Stoff ist aus einem leicht rauen, dicken und gleichzeitig elastischen Material, das jede einzelne meiner Kurven vorteilhaft umschmeichelt. Es ist schulterfrei im Carmen-Stil, mit einem herzförmigen Dekolleté und endet kurz über meinem Knie.

LacunaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt