Er folgt meinem Blick und dreht sich um, dann sieht er mich wieder an. Man kann mir meine Gedanken scheinbar von der Stirn ablesen, denn er schüttelt den Kopf und brummt: »Ich dachte, ich hätte diese aggressiven Bärin gesehen, die seit Wochen die Waldränder unsicher macht. Ich nenne sie Betty.«
Wie, als verstünde er selbst nicht, warum er den letzten Teil gesagt hat, schüttelt er den Kopf. Ich sacke zusammen. Einerseits erleichtert mich seine Aussage, aber andererseits empört sie mich auch.
»Du hast mich also mit einem Bären verwechselt? Wow, du weißt echt, wie man einer Frau schmeichelt.«
Für den Bruchteil einer Sekunde wundere ich mich erneut über meine so locker gewordene Zunge, doch der Augenblick vergeht schnell. Denn Kane packt mich plötzlich am Arm und beginnt, mich hinter sich herzuzerren.
»Ah, Scheiße, was wird das?«, kreische ich panisch. Mist, ich wusste immer, dass was faul ist mit dem Mann!
»Ja, was wohl? Ich fahre dich nach Hause!«, zischt er. Wieder durchströmt mich Erleichterung. Langweilig ist es nicht mit ihm, das steht schon mal fest. Allerdings kann ich auf diese Achterbahnfahrt der Gefühle in Zukunft definitiv verzichten.
Als ich mich losreißen will, gibt er mich schließlich frei. Schweigend gehe ich hinter seinem breiten Rücken her, düstere Gedanken wälzend. Die Aussicht, die nächsten zehn Minuten mit ihm in einem Auto eingepfercht zu verbringen, gefällt mir überhaupt nicht.
Um ehrlich zu sein, bereitet sie mir ein wirklich intensives Gefühl des Unwohlseins.
Aber lieber mit Kane Anderson auf engstem Raum in einem Auto als zwischen Bettys Fangzähnen, sage ich mir.
Mit einem mehr als nur bisschen unguten Gefühl folge ich Kane durch den in silbriges Mondlicht getauchten Nadelwald.
Durch die Bewegung wird mir kaum merklich wärmer, immerhin etwas. Meine nackten Füße frieren und dieses dünne, fadenscheinige Nachthemd schützt mich so gut wie gar nicht vor den kühlen Temperaturen. Der große Mann in T-Shirt vor mir scheint von der milden Abendluft rein gar nichts zu spüren. Unbeirrt und zielstrebig schreitet er mit ruhigen, aber gleichzeitig energischen Schritten vorwärts.
Plötzlich höre ich ein Geräusch einige Meter entfernt im Unterholz und ich schnappe lautlos nach Luft. Scheiße, wenn das dieser Bär ist...!
Panisch versuche ich, im Dickicht etwas zu erkennen, was bei diesen Lichtverhältnissen beinahe ein Ding der Unmöglichkeit ist.
Schließlich reiße ich meinen Blick los und richte ihn wieder nach vorn – nur, um Kanes kalten Augen zu begegnen. Ich will schon ein entnervtes ›Ist was?‹, zischen – man merkt, dass meine Nerven blank liegen – da merke ich, dass ich scheinbar stehen geblieben bin. Und das, ohne es zu merken. Kein Wunder also, dass er mich so übellaunig anstarrt, er hat's ja ziemlich eilig.
Nun ja, ich meine noch übellauniger als sonst.
Kane kneift ein letztes Mal drohend die Augen zusammen und mir läuft es kalt den Rücken herunter (was diesmal nichts mit den Temperaturen zu tun hat). Sobald er sich umdreht und wieder weiterläuft frage ich mich, vor wem ich jetzt mehr Angst habe: Kane, oder Betty, der blutrünstigen Bärin?
Unglaublich – wenn mir einer mal erzählt hätte, dass das passieren würde... dass ich mit Kane Anderson allein durch den Wald wandere... ein Tippen an die Stirn und ein Augenrollen wären meine Antwort darauf gewesen. Nie im Leben hätte ich das glauben können!
Und dennoch bin ich nun hier und tue genau das: dem unheimlichen Kane durch den Wald folgen, und das auch noch nachts. Man könnte fast meinen, dass ich ein wenig lebensmüde bin... was definitiv nicht der Fall ist. Wie gesagt, ich bin noch lange nicht damit fertig, dem Leben das Mark auszusaugen und es in vollen Zügen auszukosten!

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Lacuna
Mystery / ThrillerSTELLA schlafwandelt. Immer zu den gleichen Orten. Denkt sie. Und seit Kurzem scheinen es nicht mehr die Orte zu sein, die sie so anziehen... sondern ein ganz bestimmter Mann. Es ist KANE. Und er ist der allseits verhasste Outcast der Stadt. ... St...
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