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Einige Sekunden starre ich ihn lediglich entgeistert an. Wahrscheinlich sehe ich in diesem Moment aus, wie eine Idiotin, aber das ist mir egal – zu präsent ist die Wut, die mit jedem Herzschlag härter und brennender wird.

»Du willst mir allen ernstes weismachen, dass du gerade eine Vollbremsung auf der Landstraße hingelegt hast, um mir das mitzuteilen? Wirklich, Kane Anderson?«, rufe ich. An seiner Miene kann ich ablesen, dass er für einen kurzen, wirklich sehr kurzen, Moment überrascht ist – aus unserer gemeinsamen Schulzeit dürfte ihm wohl noch bekannt sein, dass ich selten die Stimme erhoben, geschweige denn laut geworden bin.

Doch Kane erholt sich schnell von seinem kurzzeitigen Schock. Er beugt sich mit einem Ruck zu mir vor, so weit, dass unsere Nasenspitzen vielleicht gerade mal zwei Zentimeter trennen dürften. »Ja, genau das habe ich getan, Rafman! Du kannst mich noch so treuherzig mit deinen Rehaugen anklimpern, hilft alles nichts!« Er wendet sich ab, senkt den Kopf und sackt leicht zusammen.

Ich stutze. Rehaugen? Anklimpern?

Dann sagt er etwas ruhiger: »Verlass dich einfach nicht auf mich. Ich habe keinen Nerv, mich mit der Enttäuschung anderer rumzuschlagen.« Er beißt sich einmal auf die Unterlippe und fixiert irgendwas am Horizont, die Miene finster wie eh und je. Dann startet er kopfschüttelnd den Motor und fährt weiter.

Ich bin genervt von seinem unnötig abweisenden und impulsiven Verhalten. Gleichzeitig würde ich ihm aber auch gerne sagen, dass ich ihn verstehe. Leider habe auch ich ständig mit der Enttäuschung anderer Menschen zu kämpfen. Allen voran mit der meiner Mutter, deren Ansprüchen ich wohl nie gerecht werde.

Kane stellt es in dieser Hinsicht vermutlich schlauer an als ich: Er erstickt jegliche möglichen Erwartungen anderer Leute im Keim. Keine Erwartungen ist gleich keine daraus resultierenden Enttäuschungen – im Grunde genommen eine simple Gleichung.

Natürlich sage ich kein Wort. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er es nicht zu schätzen wüsste, wenn ich ihm jetzt meine Verbundenheit aussprechen und erzählen würde, dass ich die Sache mit der Enttäuschung gut nachvollziehen kann. Also tue ich das, was ich schon immer am besten konnte: schweigen.

»Stella, wir spielen jetzt ein Spiel, in Ordnung? Setz dich unter die Spüle in den Schrank und sei ganz leise.  Mach keinen Mucks. Du darfst dich nicht bewegen und keine Geräusche machen. Und du darfst auf gar keinen Fall rauskommen, egal, was du hörst, okay? Schaffst du das, mein Mädchen?«

Ich kneife die Augen zusammen und beiße mir so hart auf die Innenwand meiner Mundhöhle, dass ich Blut schmecke. Ich spüre, wie mein Puls hochgeht und meine Hände zu Zittern anfangen. Ich kann es fühlen... diese ganz spezielle, alles mit sich reißende Panik, die ich auch damals verspürt habe. In diesem Moment gleicht das Gefühl eher einem saften Lufthauch, der kurz an mir vorbeistreift und dann weiterzieht.

Nichtsdestotrotz hinterlässt es einen bitteren Geschmack auf der Zunge.

Ich schaue nicht zur Seite und trotzdem spüre ich, dass Kanes Blick für einen kurzen Moment auf mir ruht. Mir kommt es fast so vor, als wüsste er genau, was in mir vorgeht. Doch kurz darauf könnte ich wieder den Kopf über mich schütteln. Kane hat offensichtlich besseres zu tun, als mich zu analysieren.

Als langsam der Bungalow, den ich mein Zuhause nenne, in Sicht kommt, hoffe ich inständig, dass meine Mutter diesmal im Bett geblieben ist. Ich rechne ehrlich gesagt damit, dass auch Kane diesbezüglich dazugelernt hat und mich diesmal ein Stück vom Eingang entfernt absetzt.

Doch Fehlanzeige: Er steuert den röhrenden Geländewagen direkt in die kleine Einfahrt. Ich beschließe, das nicht weiter zu kommentieren und setze stattdessen alles daran, so schnell wie möglich ins Haus zu kommen.

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