Sue hatte keine Lieblingsjahreszeit. Obwohl, nein, ihr gefiel die Weihnachtszeit nicht und deswegen auch nicht der Winter, aber der Sommer war eigentlich schön. Schwül, aber schön, auch wenn sie die ganze Zeit in der Wohnung bleiben würde, auf ihrem Bett, schwitzend, die kurzen Haare im Nacken klebend und erschöpft. Trotzdem mochte sie diesen Februar, der ihr schon wenige kalte Sonnenstrahlen in das Gesicht hauchte. Sue hatte blasse Haut, blasse Sommersprossen, blasses Haar, blasse Lippen und das Einzige, was nicht blass an ihr war, waren ihre tiefroyalblauen Augen. Die schimmerten aber glasig und trüb.
Sue war schmal, hatte keine Kurven, ihre Züge waren markant und ihre Knie hatten immer eine lila Schattierung. Vielleicht waren ihre winzigen Muttermale genauso kräftig wie ihre Augen, aber sie waren nicht besonders schön, zwar klein, aber nichts kunstvolles und zu Sternzeichen konnte man sie auch nicht verbinden. Sie hatte es mit einem Kugelschreiber versucht, als sie jünger gewesen war, aber am Ende hatte man den Zusammenhang gar nicht verstanden und Sue hatte sich den Kugelschreiber einen ganzen Nachmittag und Abend mit Seife, die nach Kamille gerochen hatte, abrubbeln müssen. Dann hatte sie sich auf das Waschbecken gestemmt, in ihre Augen geschaut und sie hatte sie schön finden wollen, wirklich, aber Sue fand ihre Augen zu klar und zu eindeutig dafür. Die kleine Sue hatte es nicht beschreiben können, nicht mit Worten, aber sie fand die verworrenen Dinge schön, die beschatteten und die, die im Nebel lagen, denn - und das verstand die sechzehnjährige Sue nun - es gab keine schönen Dinge auf der Welt und alle schönen Dinge, die verworrenen, beschatteten und im Nebel liegenden Dinge, die waren nur schön, weil man sie nicht richtig sah. In dieser Welt, in der aber alles klar, hart und undurchsichtig war, gab es nichts mehr, das im Nebel lag. Das war nicht schlimm, aber auch nicht schön.
Sue fand aber das blassrosane Taschenbuch auf ihrer Fensterbank schön, das da immer mit seinem zerknickten Cover und vergelbten Seiten lag, auch wenn sie es lange nicht mehr gelesen hatte. Es lag da einfach und es war ganz in Ordnung, ganz schön. Sie hatte eine weiße, lange Kerze daneben gestellt und wollte, dass der Wachs von ihr hinunterlief und auf der Fensterbank kleben, sich verewigen würde, aber Sue hatte diese Kerze noch nie angezündet. Das würde sie auch nicht, denn wenn die Kerze dann mal aufgebraucht sein würde, würde sie nicht wissen, was sie mit ihr machen sollte, mit diesem hässlichen, zusammengelaufenen Klumpen von Wachs auf ihrer Fensterbank.
Ihre schmale, geisterhafte Gestalt stand mitten in ihrem Zimmer, die kalten Sonnenstrahlen verzogen sich und ein angenehmes Grau blieb zurück. Sue sah von dem rosanen Taschenbuch, der weißen Kerze und der Fensterbank auf, sie sah aus dem Fenster und sie dachte, sie würde den Jungen sehen, aber er war nicht da, das Zimmer war verlassen und sein Fenster stand offen.
Sue ging in die Küche, machte sich einen kalten Kakao. Er bestand hauptsächlich aus dem Pulver, das an ihrer Zunge und ihrem Gaumen klebte, weil sie keine neue Milch gekauft hatte.
DU LIEST GERADE
Fremde
Short StoryVon Sue und Nickolas, die sich schon ihr ganzes Leben lang durch ihre Fenster sahen. Von Hämatomen, Drogen und dem Großwerden in einem Drecksviertel. [TW: Beschreibt häusliche Gewalt, SVV und den Konsum von Drogen] Ade Vede; Oktober 2020