Sue begann frische Luft zu atmen, kalt und aufweckend, so essenziell wie Wasser. Sue saß nun oft an ihrem Fenster, das Starren war von dort aus einfacher. Denn natürlich, eigentlich wollte sie nur zeitlos und unberührt in die Leere starren, aber Sue war unruhig, leise und unruhig und die Welt hinter dem Fenster, die Welt im offenen Fenster gab ihr etwas zum Starren. Sue brauchte nur ein wenig Bewegung vor ihren Augen, ein wenig Leben, den Hinterhof, den Wind in den fahlen Bäumen, Menschen auf dem Bürgersteig. Das Viertel war grau und eintönig, aber ein bisschen bewegte es sich immer.
Ihr Kinn ruhte in ihrer Armbeuge, als ihr Blick die gegenüberliegenden Fenster entlang schweifte. Seit drei Tagen war das Licht in Nickolas' Zimmer ausgeblieben, die Jalousien runter, das Fenster zu. Und an dem Nachmittag vor den drei Tagen hatte Nickolas vor dem Fenster gestanden und seine ganzen Arme voll geblutet. Es war erschreckend viel Blut gewesen, als erstes dick und dunkel, dann so dünn wie Wasser. Sue hatte sich gewundert, was für ein Bluten normal war, aber dann hatte Nickolas ein wenig Koks gezogen, während er geweint hatte und danach, danach- Ja, danach waren das Licht aus, die Jalousien runter, das Fenster zu geblieben.
Das blieb für den nächsten Monat so.
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Fremde
Short StoryVon Sue und Nickolas, die sich schon ihr ganzes Leben lang durch ihre Fenster sahen. Von Hämatomen, Drogen und dem Großwerden in einem Drecksviertel. [TW: Beschreibt häusliche Gewalt, SVV und den Konsum von Drogen] Ade Vede; Oktober 2020