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Am Anfang hatte sie ihre Haut noch eingesalbt, abgetastet, bandagiert und regelmäßig nachgeschaut, danach nachgeschaut, was wich und was neu dazukam und auch, was blieb. Dieser Anfang waren die ersten 4 Jahre, von der siebenjährigen Sue bis zu der elfjährigen Sue. Und dann wurde es zwar nicht egal, aber es wurde belangloser. Es nahm jeden Tag ein und trotzdem, es war belanglos. Sue hörte auf ihre Haut einzusalben, abzutasten, zu bandagieren und vor dem Nachschauen, davor bekam sie Angst und musste sich übergeben. Sue hörte auf ihre Hämatome zu sehen, ihre Wunden, Schürfwunden, splittrige Knochen und Blutergüsse. Sue sah zwar die Welt, klar und deutlich, aber sie mochte es zu denken, sie sei furchtlos, auch, wenn sie einsehen musste, dass es ihr nur egal war, weil sie machtlos war.

Sue sah lieber den Jungen in dem anderen Fenster, als sich selbst.
Heute - Sue war sechzehn - sah sie ihn beim Starren, denn er starrte unheimlich gerne. Das hatte Sue im letzten Jahr gelernt. Er starrte Stunden gegen die Wand und beim Starren starrte Sue ihn an und es hatte etwas beruhigendes, sein leerer Blick, weil für ihn alles so schnell vergehen musste, dachte sie, sonst würde er nicht so lange starren.

Sue schälte sich aus ihren Klamotten, strich sich ihren blassblonden Bob hinter die Ohren, legte sich im rosanen BH ins dünne Bett und starrte an die Decke, aber irgendwie funktionierte es nicht, das Starren, denn Sue fühlte sich, als gäbe es keine Luft mehr auf der Welt oder kein Atmen und trotzdem atmete sie, schnell, panisch und rasselnd und nach einer halben Stunde bemerkte Sue die Tränen auf ihren Wangen und den metallischen Geschmack von Blut in ihrem Mund, nachdem sie sich auf die Zunge gebissen haben muss.

Währenddessen saß Nickolas am gegenüberliegenden Fenster und zog Kokain.

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