Kapitel 12

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So viele Menschen verlieren jemanden, ohne Abschied nehmen zu können. Ich weiß nicht, was schlimmer ist, der plötzliche Tod oder zuzusehen, wie eine geliebter Mensch langsam stirbt.Man möchte noch so viel sagen, doch am Ende bleibt viel zu viel unausgesprochen. Bis heute haben wir nie richtig über den Tod unserer Mutter geredet. Nie zueinander gesagt, dass sie uns fehlt. Aber ich weiß, er vermisst sie, und er weiß, dass ich sie vermisse. Jeder hat es für sich selbst und auf seine eigene Art und Weise verarbeitet. Vielleicht, weil es noch unerträglicher gewesen wäre, wenn wir es ausgesprochen hätten. Ich brauchte Jahre, um über sie zu reden, ohne zu weinen. Unser Verlust hat uns stärker gemacht, hat uns noch enger zusammengeschweißt. Nichts im Leben hält fester als das Band zwischen Bruder und Schwester. Ohne ihn wäre alles noch viel schlimmer gewesen. Heute ist er erwachsen und dennoch bleibt er mein kleiner Bruder, für den ich alles tun würde. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denke. In manchen Momenten nerve ich ihn mit meiner "Große-Schwester" Fürsorge, aber ich kann nicht anders. Ich war da, als er geboren wurde, ich war da, als er seine ersten Schritte machte, als er seine ersten Worte sprach. Ich zeigte ihm, wie man sich die Schuhe bindet. So viele Augenblicke im Leben, die ich anders wahrgenommen habe als er. 

Sag LebewohlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt