✨11 - Sonntag✨

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Damians Sicht
Als ich wieder erwache, ist es bereits fast zehn Uhr. Ich schwinge meine Beine aus dem Bett. Ich habe erstaunlicherweise richtig gute Laune. Was ist nur los mit mir? Warum bin ich in letzter Zeit so gut drauf? Zwei Tage in Folge beste Laune? Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen. Zumal ich doch sonst ständig innere Aggressionen hege. Was ist so plötzlich mit ihnen geschehen?

Ich husche verschlafen und achselzuckend ins Badezimmer, mache mich frisch und ziehe mich an. Nebenbei läuft ein bisschen Musik von Jay-Z, meine Eltern sind nämlich sowieso schon auf den Beinen. Ich gehe nach unten in die Küche, mache mir ein Müsli und hole mein Handy hervor, um zu schauen, was mich denn heute im Wohnheim genau erwarten wird.

Da ja gestern bereits für den heutigen Tag im kleinen, blauen Planer vorgetragen war, habe ich mir die Aufgaben einfach abfotografiert. In den geschätzten drei Stunden muss ich heute die Aufenthaltsräume saugen und wischen, in der Bibliothek die neuen Bücher einräumen und die Mülleimer in allen Häusern, Zimmern und auch die auf dem Hof ausleeren. Das wird ja relativ einfach. Heute also keine Kartoffeln schälen, geil!

Ich schlürfe die restliche Milch aus der Müslischale und schnappe mir meine Fliegerjacke. Ich verlasse das Haus und schlendere zur Bushaltestelle. Pfeifend ignoriere ich sogar die Steinchen am Straßenrand, die ich sonst immer wegtrete.  Auf den Punkt genau, als ich an der Haltestelle ankomme, fährt auch der Bus vor, als wäre heute aus irgendeinem Grund mein Glückstag.

Judys Sicht
Gähnend erwache ich, reibe mir die Augen und Strecke mich. Als ich mich an das Tageslicht gewöhnt habe, stehe ich langsam auf. Ich tapse zum Spiegelschrank und betrachte mich kurz. Wie immer trage ich meinen rosa-grün-gestreiften Pyjama und sehe mit meinem zerzausten Haar noch ziemlich verschlafen aus.

Als ich die Schranktür öffne und mir Sachen heraushole, fällt mir plötzlich ein, dass es nur noch eine Nacht ist, bis ich auf die neue Schule gehen werde! Ein bisschen fängt es in mir an zu kribbeln. Ich bin aufgeregt, sehr aufgeregt, auch wenn ich es nicht wahrhaben möchte. Nach diesem Gedanken bin ich jetzt natürlich hellwach, schlüpfe in meine Jeans und einen weißen Hoodie mit aufgestickten Blumen an den Ärmeln.

Das Blumenmuster zieht sich von den Bündchen bis zu den Ellenbogen hinauf. Diesen Pullover hat mir meine Oma zum letzen Geburtstag geschenkt, den sie noch miterlebt hat. Die Blumen hat sie selbst daraufgestickt. Ich bedaure ihren Tod noch immer sehr, doch ich bin über die schwerste Zeit der Trauer längst hinweg. Ich weiß, dass sie irgendwie von irgendwo auf mich aufpasst, vielleicht ja vom Himmel aus. Ich glaube zwar eigentlich nicht an sowas, aber der Gedanke ist trotzdem irgendwie schön.

Sie war die erste Person, der ich von meinem Geheimnis erzählt habe, damals, als ich es selbst erkannt habe. Bei ihr habe ich mich nach meinem Outing ständig ausgeweint und sie hatte immer einen Rat und ein offenes Ohr für mich. Sie hat mich, seit ich denken kann, schon immer so akzeptiert, wie ich bin. Ganz im Gegensatz zu meinen Eltern, die meistens der Grund gewesen waren, warum ich weinend bei meiner Oma aufkreuzte, um mich in ihre liebevollen Arme schließen zu lassen.

Meine Eltern wollten mich zu Veranstaltungen immer in Hemd und Hosenträger oder in einen Anzug stecken, doch meine Oma hat mir immer heimlich Kleider gekauft oder sogar selbst welche für mich genäht. Ich muss schmunzeln, als ich an ihre schlechten Ausreden bei meinen Eltern denke. Aber am Ende hat sie sich immer bei ihnen durchgesetzt. Sie hat sich nie was sagen lassen, schließlich war sie ja die Mutter meiner Mutter.

Mit meinem schnörkeligen Kamm, den ich mal auf dem Flohmarkt für einen halben Euro entdeckt habe, kämme ich mein Haar durch. Der billige Kamm begleitet mich schon seit drei Jahren, er hat mich damals irgendwie angesprochen, mit seinen goldenen Verzierungen, die ihn aussehen lassen, als hätte er mal einer Prinzessin gehört.

Ich betrachte mein Haar, während es durch die Zähne des Kammes gleitet. Es fällt mir bis hinunter auf die Brust und ist Kastanienbraun. Ich überlege, ob ich sie mir vor der Schule vielleicht noch etwas kürzer schneiden soll, doch ich verwerfe diesen Gedanken schnell. Warum sollte ich mich für die Schule verändern? Mir gefällt mein Ich, so wie es jetzt ist, sehr gut.

Ich entscheide mich dafür, mein Haar morgen mit dem Glätteisen eventuell etwas zu glätten, das sollte dann aber auch reichen. Ich verlasse mein Zimmer, um zum Frühstück zu gehen. Ich klopfe bei Marilyn an die Tür, doch sie ist nicht in ihrem Zimmer. Auch Kate ist schon weg, stelle ich nach einem Besuch an ihrer Tür fest. Ich bekomme auf mein Klopfen bei beiden Mädchen keine Antwort. Komisch, sonst warten sie doch immer auf mich? Ich bekomme ein ungutes Gefühl bei der Sache. Das hat doch nicht etwa wieder was mit diesem Küchen-Heini zutun?

Als ich nach draußen ins Freie trete, weht mir der Wind lauwarm ins Gesicht. Ich muss unwillkürlich lächeln, es riecht eindeutig nach warmem Herbst. Ein Rumoren ertönt aus meinem Bauch. Es wird Zeit, dass ich etwas zwischen die Zähne bekomme! Ich setze also meinen Weg fort und schlendere den gepflasterten Weg entlang zum Saal. Ich gucke zusammen, als mein Blick plötzlich tatsächlich auf ihn fällt. Schon wieder dieser Typ, der Küchenjunge oder die Aushilfe, was auch immer er jetzt sein soll. Er kommt wahrscheinlich grade von der Bushaltestelle. Ich bleibe unbewusst hinter der großen Eiche stehen, während ich ihn mustere, als er durchs Tor geht.

Er trägt eine dunkle Fliegerjacke und ausgebeulte Baggy-Jeans, die ihm tief auf den Hüften sitzen. Seine Turnschuhe wirken abgetragen, doch es passt irgendwie zum Gesamtbild. In seinen Ohren stecken Kabelkopfhöhrer, zu dessen Musik er leicht mit dem Kopf wippt. Bisher ist mir gar nicht aufgefallen, dass er Locken hat, doch jetzt sehe ich, wie sie sich wippend an seine Bewegungen anpassen. Seine Gesichtszüge sind noch immer hart, aber seine Miene wirkt irgendwie weicher als gestern, nicht ganz so grimmig würde ich mal behaupten. Er blickt sich nicht um, geht nur schnurstracks auf das Hauptgebäude zu, während er offenbar ein gutes Lied hört.

Ich realisiere mit einem Mal, wie seltsam es aussehen muss, dass ich ihm hinterher glotze und lasse es schnell bleiben. Zum Glück hat er mich nicht gesehen, das wär ja noch peinlicher! Schnell gehe ich weiter, bevor er mich doch noch bemerkt. Ich weiß ehrlich gesagt nicht genau, ob ich den Typen jetzt komisch finde oder ob er mir einfach nur übertrieben auf die Nerven geht. Vor allem, weil Kate und Marilyn ihn so anhimmeln. Was soll an dem denn so außergewöhnlich sein? Ich verstehe die beiden überhaupt nicht.

Ich schüttle die Gedanken schnell von mir ab und gehe weiter. Als ich endlich in den Saal eintrete, sehe ich die beiden Mädchen schon an einem Tisch sitzen. Also sind sie wirklich ohne mich losgegangen, was für eine Frechheit! Ich hole mir Obst und ein Brötchen mit Käse vom Frühstücksbuffet. Dazu nehme ich mir Orangensaft, weil ich den am liebsten mag.

Als ich mich zu ihnen geselle, begrüßen sie mich zwar herzlich, doch trotzdem frage ich etwas gekränkt: »Warum habt ihr nicht auf mich gewartet?« Kate antwortet mir mit einer abwinkenden Handbewegung: »Wir sind schon extra früh los und da wollten wir dich nicht wecken.« Marilyn nickt nur zustimmend. Kate flüstert mir zu: »Wir mussten doch schauen, ob der heiße Küchenjunge wieder da ist!« Ich verdrehe nur die Augen.

»Er ist aber heute leider nicht hier.«, fügt Marilyn hinzu und zieht einen Schmollmund. »Achso.«, sage ich und versuche, verständnisvoll auszusehen. Ich behalte es lieber für mich, dass ich ihn gerade eben erst gesehen habe. Ich will schließlich nicht, dass Kate und Marilyn jetzt aufspringen, alles stehen und liegen lassen und ihn die ganze Zeit verfolgen. Das wäre ja ultimativ unangenehm! Diese ganze Anhimmelei nervt mich. Nein, er nervt mich! Warum kann er nicht einfach von hier verschwinden und woanders Laub kratzen?

Hate Trans, Love TranceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt