Kapitel 8

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Einen so schönen Montagmorgen hatte ich schon lange nicht mehr. Niemand ruft mich an, ich bin nicht unter Zeitdruck, habe keinen Stress. Lilly, Boby und ich sitzen im Auto und fahren in den Süden. Wir haben uns für eine Wandertour entschieden. Lilly war noch nie wandern und ich könnte es gut gebrauchen. Boby wird sich sicherlich freuen, dass er die ganze Zeit rumtollen kann. Laut Navi brauchen wir sieben Stunden um anzukommen. Ich erinnere mich an eine fünf Stündige Fahrt zu meinen Kunden. Ich habe mich gefüllt wie ein Strafgefangener, der zu seiner eigenen Hinrichtung fährt. Lilly schaut verblüfft in der Gegend rum. Boby und sie haben eigentlich den gleichen Gesichtsausdruck. Unterschiedlich ist lediglich, dass Boby seine Zunge rausgestreckt hat. Lilly nicht. NOCH nicht. Wir hören im Radio gerade ein Gewinnspiel in dem eine Reise nach Bora Bora verlost wird. Die Anrufer müssen dazu lediglich anrufen und sagen, welches Gemüse gemeint ist mit: "Blumenkohl grün". Entweder Romanesco oder Broccoli. 

"Also...", Lilly unterbrach die nahezu perfekte Stille.

"Ja?"

"Fabi.", sie nickte während sie das ausgesprochen hat. 

"Ja, was ist mit Fabi?", ganze Sätze waren damals wohl auch nicht meine größte Stärke.

"Wie lange seid ihr denn Zusammen?", fragte Lilly mit gehobenen Augenbrauen.

"Hm.", wenn man älter wird ist die Zeit, wie Einstein sagen würde - relativ. Ich musste daher überlegen, in welchem Jahr wir uns aktuell überhaupt befinden. "Fünf Jahre und noch ein paar Monate.", sagte ich schließlich.

"Okay, also seid ihr zusammen gekommen, als wir 21 waren"

"Ja, genau.", also Mathe konnte ich mit sechszehn wahrscheinlich besser als jetzt.

"Was passierte denn mit meinem aktuellen Freund?", fragte Lilly. Sie überschlug ihre Hände.

"Wer ist denn dein aktueller Freund?"

"Luca", sagte sie.

Soll ich es ihr sagen? Das wird ihr das Herz brechen. Ich glaube aber, dass sie es verkraften wird, wenn sie die ganze Geschichte hört.

"Ah, der. Er wird dich verlassen. An deinen Geburtstag. Per Facebook. Deine Freunde werden um dich sein und es mitkriegen und dann wirst du anfangen zu weinen", sagte ich.

"Was? Wieso? Hab ich was falsch gemacht?", ihre Stimme bebte. Ihre Augen wurden glasig.

"Nein, hast du nicht. Du hast alles richtig gemacht. Es ist nur... Du willst nicht mit ihm ins Bett.", ich machte eine kurze Pause. Ah, jetzt sag ich ihr auch direkt die komplette Geschichte.

"Es ist so. Ein paar Tage davor wart ihr bei ihm und du fühltest dich halt noch nicht bereit. Dann gehst du nach Hause und er antwortet dir nicht mehr. An deinem Geburtstag verlässt er dich dann. Den Grund erfährst du von ihm nie weil er dich automatisch überall blockiert und da er zwei Tage danach umgezogen ist, findest du ihn auch nicht.", sagte ich

"Das... Das ist.... Du lügst!", ihre Trauer wurde nun zur Wut.

"Oh, das ist noch nicht das schlimmste. Er wird natürlich all seinen Kumpels sagen, dass er dich ins Bett gekriegt hat. Unter Anderem auch deiner besten Freundin."

"Und sie sagt es mir dann?"

"Haha, nein. Sie sagt es dir ein halbes Jahr später, wenn du fast über ihn hinweggekommen ist. Ach ja, den Abend deines Geburtstages geht er mit seiner besten Freundin feiern, dass er Single ist und schwängert irgendeine Frau im Club."

"Was? Nein, das würde sie nie tun! Und er würde das auch nicht tun! Du lügst doch wie gedruckt. Hör auf mich zu verarschen.", sie schlug mit ihrer Hand gegen das Armaturenbrett.

"Ich wünschte es wäre so, ich wünsche es mir wirklich. Ich hab aber keinen Grund dich anzulügen. Es tut mir Leid."

"Sind wir überhaupt noch mit Ella befreundet?"

"Nein.", ich lachte.

"Aber... Aber wir haben uns versprochen, dass wir uns nicht wegen einem Typen streiten.", sagte Lilly.

"Das war auch nicht der Grund. Menschen verändern sich, mini-me. Es kommen tragische Erlebnisse und die treffen Menschen. Manche verändern dich dann zum Besseren und andere zum Schlechteren. Im Falle Ella, glaube ich, dass wir den richtigen Weg gegangen sind. Sie würde aber eher das Gegenteil behaupten."

"Was ist passiert?", fragte Lily. 

Meine Brust fing an zu schmerzen. Es ist zwar schon ein paar Jahre her, aber es schmerzt immer noch. Es schmerzte am Anfang mehr, aber mittlerweile ist die Wunde wenigsten ein kleines bisschen kleiner geworden. Ich wusste, dass ich es Lilly sagen musste, aber ich musste erst stehen bleiben. Ich fuhr von der Autobahn runter. Boby muss bestimmt auch raus, er kann auch nicht mehr im Auto sitzen.

"Hallo? Ich hab dich was gefragt. Was ist passiert? Und wieso gehen wir runter von der Autobahn?", Lillys Stimme wurde immer stiller.

"Lilly... Ich weiß nicht" , ich machte eine kurze Pause, "Ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll..." 

"Ist es wegen Tony?"

"Ja.", ich schluckte.

"Sie wird es also nicht überleben?"

"Nein..."  

Ich blieb stehen vor dem ersten Hotel, dass ich gesehen habe. Ich konnte so unmöglich weiter fahren. Tony war damals eine sehr gute Freundin von uns. Von Ella und mir. Sie war eine der Personen, die puren Sonnenschein in jeden Raum brachten, den sie betreten haben. Sie machte alles für ihre Freunde und war bereit sich mit jedem anzulegen, der irgendwas gegen unsere Freunde hatte. Ich erinnere mich noch, wie eine Freundin von uns gehänselt wurde während der Schulzeit. Als die Freundin dann anfing zu weinen, konnten wir Tony nicht mehr aufhalten. Sie ging zum Haupt-Mobber und verpasste ihm einen Tritt in die Eier. Danach setzte sie sich auf seinen Bauch und versuchte ihn zu erwürgen. Rückblickend betrachtet, war das keine gute Art und Weise um mit Problemen umzugehen, aber der Mobber hat die Freundin nie wieder erwähnt. Als ich dann 15 war, kurz vor meinem 16-ten Geburtstag, hat man uns gesagt, dass sie Krebs hat. Wir mussten zuschauen wie das große Feuer ihrer Seele langsam erlosch. Sie war jeden Tag trauriger, bis sie sich letztendlich selbst aufgegeben hat. Ich schluckte meine Tränen runter.

"Und der einzige Kommentar von Ella dazu war "Das war vorhersehbar."

"Ist das ihr Gottverdammter Ernst?!", ihre Stimme bebte vor Wut, "Wie lange hab ich noch mit ihr?"

"Drei Jahre ungefähr."

Ich schaute zu Lilly. Sie hatte sich mittlerweile in die Fetus-Position gebracht und weinte bitterlich. Ich wusste, dass ich nichts machen konnte, um sie zu trösten. 

"Ich würde gerne eine Weile hier bleiben, bevor wir weiter fahren. Vier Stunden Fahrt sind ziemlich anstrengend, außerdem haben wir der Dame gesagt, dass wir morgen erst ankommen."

Lilly hat kein Wort mehr rausgekriegt. War es zu viel? Hätte ich es ihr verschweigen sollen?


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