Das wird wohl wieder einer dieser Tage. Es ist mittlerweile fast fünf Uhr, aber ich kann schon seit Stunden nicht schlafen. Manche Nächte schlafe ich nicht. Ich weiß nicht, ob mich die Vergangenheit einholt oder die Gegenwart erdrückt. Ich wache meist nach zwei-drei Stunden auf und denke dann über mein Leben nach. Ich dachte, es würde Anders sein, jetzt da wir im kleinen Dorf Jerzens angekommen sind. Die Luft hier ist eine grundsätzlich andere als die, die ich daheim gewöhnt bin. Die Dame, die uns den Schlüssel vom Ferienhaus übergeben hat, haben wir nur für zwanzig Sekunden gesehen. Sie meinte dann, dass sie einen Termin hat und ist gegangen. Das Ferienhaus ist sehr gemütlich. Es ist ein typisches Ferienhaus in den Bergen. Eines mit einem Kamin, neben den man sich hinsetzen möchte und die Wärme genießen, während man sich die Zunge an der heißen Schokolade mit kleinen Marshmallows verbrennt. Neben dem Ferienhaus fließt ein kleiner Fluss den Berg herunter. Wenn man daher die Augen schließt hört man nur das Plätschern des Wassers. Es ist eine ruhige Gegend, perfekt zum Entspannen, nur komme ich nicht dazu. Wäre es komisch, wenn ich mitten in der Nacht aufstehe und spazieren gehe? Ob die Kleine auch wach ist?
Ich stehe auf und laufe zu Lillys Zimmer. Sie schläft wie ein Stein. Ah, wie ich diese Nächte vermisse in denen ich so geschlafen habe, wie sie es gerade tut. Die guten alten Zeiten, in denen ich ein Erdbeben verschlafen habe und mich am Morgen gefragt habe, warum ich auf dem Boden bin. Anfangs habe ich meine große Schwester beschuldigt, die mir erklärte, dass in der Nacht ein Erdbeben alle im Haus geweckt hätte. Damals war sie überaus dramatisch, weshalb ich ihr das anfangs nicht glaubte. Nachdem mir die anderen Familienmitglieder die Geschichte bestätigten, musste ich nur lachen. Ich habe mich bei meiner Schwester dafür entschuldigt, dass ich ihr nicht geglaubt habe, aber wem passiert denn so etwas? Durch die Jahre wurde mein Schlaf nach und nach leichter. Je mehr ein Mensch erlebt hat, desto weniger schläft er. Es gibt immer mehr Sachen, die einen den Schlaf rauben können. Lilly schlief genauso, wie mir alle damals gesagt haben, dass ich schlafe, ich es jedoch nicht glauben konnte. Ihr Mund ist leicht geöffnet, sodass sie das Kissen voll sabberte. Sie schläft auf dem Bauch, mit einer Hand auf dem Boden. Ein Bein war ausgestreckt, wehrend das andere aus der Decke schaute. Würde ich jetzt noch so schlafen, würde ich nach ein paar Nächten bestimmt Rückenschmerzen kriegen.
Ich laufe wieder in mein Zimmer und zieh mich an. Am wichtigsten sind wohl die Wanderschuhe. Ohne die, kann ich in diesem Gebiet nur schwer auskommen. Während ich mich anziehe, sehe ich wie Boby mich mit verträumten Augen anschaut. Ich habe ihn wohl geweckt. Boby streckt und schüttelt sich daraufhin. In diesem Moment wusste ich, dass ich ihn mitnehmen musste. Er ist immerhin mein kleiner Beschützer. Schon seit Welpen-tagen passt er immer auf mich auf. Ich erinnere mich noch, wie er so klein war, dass er fast in meine Handfläche gepasst hat. Und jetzt? Jetzt ist er Knie-Hoch. Er ist immer noch mein süßes, kleines Hundebaby. Er setzt sich immer noch auf meinen Schoß, als ob er nicht wüsste, dass er mittlerweile zu groß dafür ist. Ich nahm Bobys Halsband und zeigte es ihm. Er hat augenblicklich angefangen mit dem Schwanz zu wedeln. Ich ziehe ihm sein Halsband an und hole seine Leine aus dem Schrank. Neben der Leine liegt auch sein Rucksack, den wir immer mitnehmen, wenn wir spazieren gehen. Boby ist einer der Gründe, warum ich weiterhin jeden Tag lache. Wenn es mir schlecht geht oder ich traurig bin, muss ich mir nur eine Sekunde das zuckersüße Gesicht von Boby anschauen und es ist alles wieder gut. Daheim sagen wir immer, dass Boby mehr Hausarbeit erledigt als wir zwei. Immerhin fegt er jeden Tag mit seinen Schwänzchen den Boden und wischt ihn noch mit seiner Zunge ab.
Als ich mir die Schuhe angezogen habe und mich gerade vorbeugte, um die Schnürsenkel zu binden, zog mich Boby an der Leine. Er konnte es wohl kaum erwarten, dass wir Raus gehen. Draußen angekommen, sind wir über die Straße gelaufen. Wir haben entschieden, dass wir den Fluss folgen, um zu sehen, wo er genau anfängt. Mitten in der Nacht durch einen Wald zu spazieren scheint für viele abwegig, aber ich habe mir in meiner Vorbereitung die Kriminalstatistik zu diesem Ort angeschaut. Ich erinnere mich nicht mehr genau an die Details, aber ich weiß noch, dass ich zufrieden war und mich danach sicher gefühlt habe. Das sollte reichen. Durch die Stille der Nacht, war das Geräusch unserer Fußstapfen, neben dem plätschern des Flusses das lauteste, was wir gehört haben. Während wir den Berg besteigen, halte ich mich ab und zu an einem Baum fest, um nicht runter zu rutschen. Der Boden ist, trotz der geringen Luftfeuchtigkeit, relativ feucht und rutschig. Oder täuschen mich meine Sinne und es ist in Wahrheit ein tropisches Klima derzeit? Wenn ich so müde bin, wie in diesem Moment, kann ich selten meinen Sinnen vertrauen. Wir bleiben stehen und ich gehe zum Fluss, um ihn mir genauer anzuschauen und außerdem will ich mich kurz hinsetzen, immerhin laufen wir bestimmt schon seit einer halben Stunde. Ich setze mich auf einen Stein neben den Fluss und Boby setzte sich direkt auf den Boden neben mir. Er schaute mich an und sprang mir dann in den Schoss mit der Hoffnung, dass er gestreichelt werden würde. Seine müden kleinen Augen schauten zu mir, als wir auf einmal ein anderes Geräusch wahrnahmen. Wir schauten uns um, doch sahen niemanden. Boby stellte sich auf und schaute um uns herum. Mein kleiner Wachhund. Das Geräusch kam aus den Büschen, welche sich in der Nähe befanden. Es raschelte immer mehr. Etwas musste in diesem Busch sein. Wir näherten uns dem Busch immer mehr, um zu sehen, was diese Geräusche verursacht. Aus dem Busch sprang auf einmal ein weißer Hase raus. Vielleicht ist es auch ein Kaninchen, den Unterschied habe ich nie verstanden. Ein kleines Etwas mit einen weißen Kuschelfell, einer rosa Schnuppernase und einen schwarzen Puschelschwanz. Zum Glück, nichts Gefährliches. In einem Moment der Ruhe, hüpft der Schlappohr Hase davon. Oh nein. Ich habe mich so schnell umgedreht wie ich konnte, doch es war zu spät. Bobys tierische Instinkte haben bereits eingesetzt. Ich habe seine Leine nicht in der Hand gehalten, da wir uns ja hinsetzen und entspannen wollten. Das war ein großer Fehler. Jetzt muss ich den Hasen und Boby beim davonhüpfen zuschauen.
Hier war ich also. Mitten im Nirgendwo. Allein. Mittlerweile sind zwei Stunden vergangen und ich suche Boby immer noch. Ich wüsste nicht mehr, wie ich zurück in das Ferienhaus finde, wenn ich mein Handy nicht hätte. Ich höre Boby nicht. Ich höre entfernt noch das Plätschern des Flusses und vielleicht noch ein paar Waldbewohner, die gerade aufstehen. Ich suche jeden Busch, Baum und Stein nach Boby ab. Irgendwo muss er doch sein. Ich laufe weiter bis zum Ende des Waldes, der auf einer Klippe war. Meine leichte Höhenangst machte mir zu schaffen. Im Augenwinkel sehe ich, dass unter der Klippe noch ein Wald ist. Ich atme tief ein und spüre auf einmal eine Wärme in meinem Gesicht. Die ersten Sonnenstrahlen des Morgens berührten mein Gesicht. Ich mache meine Augen auf und sehe am Horizont die Sonne in einem roten Himmel. Das war einer der Vorteile der Schlaflosigkeit. Dieser Anblick des Sonnenaufgangs verleite Hoffnung. Die Schönheit weckte einen Teil von mir, den ich lange nicht mehr kannte. Ich fühlte mich verbunden mit der Natur. Ich atmete auf und genoss diesen Moment.
In der Ferne hörte ich ein winseln. Das musste Boby sein. Ich sprang auf und folgte den Geräuschen bis zu einem Baum mitten im Wald. Bobys Leine verhedderte sich an einem Baum und er konnte sich nicht befreien. Merkwürdig, dass er nicht früher angefangen hat zu winseln, immerhin war der Ort, an dem ich ihn gefunden habe, nicht weit vom Fluss. Ich entfernte die Leine vom Baum und schaute zu Boby.
"Ah, mein Junge, Mama hat sich Sorgen um dich gemacht. Was würde Mama denn ohne dich tun?", sagte ich, während ich Boby streichelte.
Er schaute mich an und wackelte mit dem Schwanze. Es fühlte sich jedoch Anders an, befremdlich. Irgendwas stimmte nicht. Irgendwas war anders.
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Der Buchladen aus der Vergangenheit
HumorHaben Sie sich jemals gewünscht Ihr 16-Jähriges ich wieder zu sehen um mit ihm zu reden? Lucilla auch nicht. Trotzdem ist es da.