Epilog

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Auch ein Jahr später hatte sich an Bord nicht viel verändert. Es war mein zweiter Sommer an Bord der MYSTERY und es wahrscheinlich eine der besten Ideen, die ich gehabt hatte. Das Meer und ganz besonders die MYSTERY waren mir ans Herz gewachsen. Das leichte Schaukeln des Schiffes, das Rauschen des Wassers im Hintergrund, die lärmenden Waschmaschinen, das Brummen des Motors und das Glücksgefühl an Deck zu stehen, und den Wind auf seinem Gesicht zu spüren. Diese Momente konnte und wollte ich nicht aus meinem Leben streichen. 

Meine Mutter, die mich in erster Linie zwar dazu überredet hatte, redete am Telefon gefühlte Stunden davon, dass ich endlich wieder nach Hause zurückkehren sollte.

Meine Mutter - ich würde sie wohl nie ganz verstehen. Das letzte Mal, dass ich sie gesehen hatte, war gerade einmal einen Monat her. Bei der Gelegenheit hatte ich ihr auch gleich Tristan vorgestellt, den ich nun offiziell meinen Freund nennen konnte. Diese Information musste bei ihr nach 18 ereignislosen Jahren erst einmal sacken, aber dafür war die Freude danach umso größer. Sie behandelte ihn fast wie ein verschollenes Familienmitglied, während mein Großvater erst einmal skeptisch war.

Ich sah Tristan an, wie er mit der Situation bei mir zuhause vollkommen überfordert war, aber ich wusste selbst nicht, wie ich ihm hätte helfen können. Er musste sich schließlich damit abfinden, dass meine Familie ganz und gar nicht normal war und ich glaube, dass er damit auch kein Problem hatte.

Ein bisschen Verrücktheit hatte noch niemandem geschadet.

Tristan blieb damals ganze zwei Wochen bei uns, und zwar im Gästezimmer, das meine Mutter extra dafür hergerichtet hatte. Mein Großvater wollte, als er von der Neuigkeit hörte, partout nicht zulassen, dass Tristan in demselben Zimmer schlief wie ich.

Das war die einzige Diskussion, an die ich mich erinnern konnte, bei der er jemals das letzte Wort gehabt hatte. Der normale Familienalltag hatte uns eingeholt. Zumindest für einen kurzen Augenblick.

Abends saßen wir zusammen und erzählten Geschichten von unseren Erlebnissen an Bord. Die wirklich spannenden Geschichten ließen wir natürlich weg. Meine Mutter hätte deswegen bestimmt einen Herzinfarkt bekommen.

Nahezu immer, wenn es um das Kreuzfahrtschiff ging, stellte es meine Mutter so dar, als wäre ich mehrere Jahre verschollen gewesen. Außerdem hatten ihr meine Großeltern mehr als einmal in den Ohren gelegen. Etwas Unterstützung zuhause hatte sie bitter nötig. Ein weiterer Grund, warum sie mich nicht mehr zurückschicken sollte, wäre ihr nur recht gewesen.

Die Arbeit auf der MYSTERY ging mir mittlerweile in Fleisch und Blut über und das stundenlange Putzen der Kabinen kam mir nun lange nicht mehr so schweißtreibend vor, wie noch zu Beginn. Ich hatte mich gut eingelebt. Manchmal durfte ich sogar Mr. Henry an der Rezeption helfen. 

Etwa alle zwei Wochen begrüßten wir neue Gäste und ich lernte viele neue Menschen kennen.

Lediglich die Menschen, die auf dem Schiff arbeiteten, blieben dieselben. Pablo und Francesco, die uns die ganze Geschichte mit Frau Hoffenmeier, Mia und ihren Großeltern nicht abkaufen wollten, ehe nicht auch Mr. Henry seinen kurzen, aber durchaus bedeutenden Beitrag zu der Geschichte leistete. Danach hatte ihnen nur noch der Mund offen gestanden. Natürlich beteuerten sie, dass sie sofort bemerkt hatten, dass mit der ehemaligen Hausdame etwas nicht stimmte. Das waren nun einmal Pablo und Francesco. Pablo hatte darüber hinaus seinen Streit mit Alexander beigelegt. Die beiden freundeten sich sogar richtig miteinander an. Sie wurden so gute Freunde, dass sie ständig zusammenhingen.

Alex hatte seinen Job - nicht ohne die Hilfe von Tristan - behalten dürfen. Er war jetzt noch engagierter als zuvor und zu seinen Kollegen war er zur Abwechslung ebenfalls freundlich. Er war alles in allem erträglicher, seitdem er sich wieder mit Tristan vertragen hatte. Die beiden gingen durch dick und dünn. Wie Brüder es eben taten.

Natürlich kam keiner der Leute, die ich an Bord kennenlernte, auch nur ansatzweise an Emily oder gar Tick, Trick und Track heran, mit denen ich mich letztendlich ja doch noch angefreundet hatte. Immerhin hatten wir ziemlich viel erlebt zusammen. Mit Emily stand ich sogar immer noch in Kontakt.

Es kam nicht selten vor, dass man mich auch als Kindermädchen brauchte, aber auch das machte mir nichts mehr aus. Alle Kinder, auf die ich bis dahin aufpassen musste, waren nicht einmal annähernd so raffiniert und gleichzeitig so liebenswürdig wie meine drei Schützlinge.

Bei ihrer Abreise hatten sie mich sogar umarmt - dieses Mal gänzlich ohne Torte in meinen Haaren zu verteilen, wofür ich ihnen sehr dankbar gewesen war.

Außerdem hatten mir diese drei Gestalten brühwarm erzählt, dass sie das nächste Jahr wieder mit an Bord kommen würden. Dieser Tag war nun gekommen. Ich sah ihre drei kleinen Köpfe und ihre blond gelockten Haare schon aus der Ferne und ich konnte mir das Lächeln wirklich nicht verkneifen.

Ich begegnete Tristans Blick. Er grinste breit.

„Na, Kindermädchen? Bereit?"

Er griff ermutigend nach meiner Hand und ich drückte sie einmal und lachte leise.

„Dieses Mal bin ich auf ihre Streiche vorbereitet. So etwas wie letztes Mal passiert mir nicht noch einmal.", sagte ich zuversichtlich und Tristans Grinsen wurde breiter.

„Sei dir da mal lieber nicht so sicher. Ich kenne noch viel mehr Verstecke an Bord, die du dir noch nicht einmal in deinen Träumen vorstellen kannst.", sagte er augenzwinkernd und meine Mund sprang weit auf.

„Du wirst den drei doch nicht etwa helfen?", fragte ich geschockt und Tristan zuckte bloß schelmisch mit den Schultern.

„Wer weiß?" Seine Zähne blitzen in dem Licht einmal auf und seine Grübchen kamen zum Vorschein.

„Das wird sicher noch sehr spannend mit uns an Bord."

"Darauf kannst du wetten."

Das Leben war niemals perfekt und würde es auch niemals sein. Aber in manchen Momenten zeigte sich, dass - auch, wenn das Leben eine verrückte unvorhergesehene Wendung nahm - am Ende alles so kommen würde, wie es kommen sollte. 

Jetzt, in diesem Augenblick, mit Tristan an meiner Seite, war das Leben nahezu perfekt.

Was auch immer der nächste Tag bringen mochte, ich war bereit. Eines stand jedenfalls fest: Ein gutes Geheimnis will bewahrt werden. Und davon schien es auf der MYSTERY eine Menge zu geben.

MeeresrauschenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt