4 | Kindermädchen?

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Ich hatte die ersten Hürden an meinem ersten Arbeitstag in meinen Augen erfolgreich gemeistert. Da die Besprechung zu Ende war und mein Dienst erst in knapp einer Dreiviertelstunde beginnen sollte, ging ich mit Tristan auf das Sonnendeck, um die ersten fünf Minuten der Abfahrt mitzuverfolgen. Mia hatte ich nicht mehr gesehen. Auch bei der Besprechung hatte ich sie unter den Crewmitgliedern nicht ausmachen können.

Aber mit Tristan würde ich den Rückweg hoffentlich auch ohne unnötige Umwege finden. Die anderen Crewmitglieder - vor allem die weiblichen - betrachteten mich neidisch, als ich mit Tristan durch die Gänge und über die Decks lief, als wären wir zwei alte Schulfreunde. Ich wusste zwar jetzt, dass er auf dem Schiff eine ganz schön große Rolle spielte, aber deswegen sah ich ihn nicht in einem anderen Licht, so wie es ein Großteil der an Bord befindlichen Personen wahrscheinlich tat. Außerdem hatte ich immer noch das Gefühl ihm etwas schuldig zu sein, daher entschied ich mich dafür diese ganze ‚Erbe-dieser-unglaublichen-Geschichte'-Geschichte zu ignorieren und ihm einfach etwas Platz zum Atmen zu geben. Er konnte schließlich auch nichts dafür.

Kaum waren wir auf dem Deck angelangt, fing der Boden mit einem Mal stärker als je zuvor an unter uns zu vibrieren und ich hielt mich unwillkürlich an der Reling fest. Das Schwanken rührte nicht von den Wellen her, wie ich im ersten Moment vermutet hatte und wie es noch vor einer Stunde auf der Kabine gewesen war. Tristan lachte.

„Das ist der Motor.", sagte er, ohne den Blick von den Wellen zu nehmen und ich ließ die Holzbrüstung, die ich bis dahin fest umklammert hielt, vorsichtig los. Wenn er das sagte, dann musste es auch stimmen. Er kannte sich auf diesem Schiff schließlich besser aus als ich.

„Okay", sagte ich gedehnt und folgte ihm auf etwas wackeligen Beinen weiter über das Deck.

„Du wirst dich an das Schaukeln schon noch gewöhnen.", sprach er mir gut zu und ich nickte. Wir schauten dabei zu, wie sich das Schiff langsam durch die Wellen drückte und sie von sich wegschob. Sie schlugen krachend an die Hafenanlage und schwappten dann gemächlich wieder auf das Schiff zu, nur um wieder weggedrückt zu werden. Der Wind schlug uns entgegen und ich schlang meine Arme um meinen Körper. Die Mannschaftsuniform war nicht für längere Aufenthalte auf Deck gemacht. Die dünne Bluse war bei den Temperaturen nicht gerade windschützend. Wir hatten Mitte August und der Wind schlug bereits auf Herbst um.

Tristan und ich stellten uns an den Bug des Schiffes und ich musste augenblicklich lächeln. An dieser Stelle hatten Rose und Jack ihren berühmten Moment gehabt und wäre ich ehrlich gewesen, hätte ich zugegeben, dass es immer schon mein Traum gewesen war diese Szene einmal nachzumachen.

„Wo bist du nur Leo?", fragte ich grinsend und eher zu mir selbst, aber Tristan hatte mich gehört.

Er wusste sofort, wovon ich sprach, streckte die Hände in die Höhe und rief „Ich bin der König der Welt!", womit er so einige belustigte Blicke auf sich zog.

Ich lachte und auch er fiel in mein Lachen mit ein, nachdem er seine Arme wieder langsam sinken ließ.

Zum ersten Mal an diesem Tag freute ich mich aufrichtig auf die nächsten Wochen und Monate. Eigentlich konnte ich mit der Situation voll und ganz zufrieden sein. Ich hatte eine gut bezahlte Arbeit, bekam täglich drei Mahlzeiten, hatte ein Dach über dem Kopf und sah vielleicht auch etwas von der Welt. Was konnte also noch groß schief gehen?

Die Antwort bekam ich etwa 30 Minuten später.

„Musst du nicht langsam los?" Tristan hatte eine Augenbraue in die Höhe gezogen und sah mich fragend an. Mein Blick schnellte zu meiner Uhr. Ich hatte nur noch zehn Minuten. Meine Augen weiteten sich und mir stockte der Atem.

„Wie komm ich am schnellsten zu den Mannschaftsunterkünften?" Tristan verlor kein Wort, sondern nahm mich bei der Hand und rannte los. Ich stolperte ihm hinterher.

MeeresrauschenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt