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𝕯er wehende Wind ließ ihre rotbraunen Haare wirr herumwirbeln, während sie die heiße Tasse Minztee zu ihren Lippen führte, die dank der Kälte blau verfärbt zitterten. Die Kälte machte Élodie aber nichts aus, im Gegenteil. Jetzt wo die Bäume weiß und der Himmel düster waren, konnte sie mitten in der dunklen, nordfranzösischen Ortschaft, vergessen.
      Sei es denn nur für einen kurzen Moment, die Grünäugige konnte einfach ausblenden was drinnen im Haus vor sich ging.
Aber dieser Moment war ebenso schnell verflogen, wie er gekommen war. Die Furcht ergriff sie ganz plötzlich wieder wie ein dumpfer Schlag und riss sie grob aus ihrer wohltuenden Gedankenlosigkeit, als das Mädchen an ihre Mutter dachte. Ihre unschuldige, liebenswürdige, arme Mutter. Ihr Vater tat dies immer öfter, zurzeit forderte er die ehelichen Pflichten mindestens dreimal im Monat, gewaltvoll, wenn es sein musste. Wenn er ermüdet von der Arbeit oder schlichtweg zu faul war und ihre Mutter Glück hatte, dann blieb es bei diesen dreimal im Monat.
      Aber das Mädchen, die Tochter der unglaublichen Frau, mit den scheinbar endlosen Durchhaltevermögen, war zu schwach. Sie konnte während der Tat nie im Haus bleiben, sie konnte das Weinen ihrer Mutter nicht ertragen. Ihre Mutter war ihre größte Schwäche, für sie würde Élodie wahrscheinlich sogar über Leichen gehen.
     Sie strich sich die Haare sachte aus dem Gesicht und seufzte mit trüben Augen einmal traurig. Was ihr Vater nicht wusste war, dass es niemals klappen würde. Ihre Mutter war schlichtweg aus dem Alter raus, in dem sie Kinder gebären konnte. Sie würde ihm nie einen Sohn schenken können und hatte dieses Leid weiter zu ertragen. Ihr Vater kannte sich nicht gut mit dem Körper der Frau aus, das tat keiner der Männer wirklich, es interessierte keinen. Er kannte nur die Lust die sie ihm bereiten konnten.
     Sie führte die Teetasse erneut an ihre Lippen und merkte, dass diese leer war. Das war ihr Zeichen wieder ins Haus zu gehen, sie ließ sich immer sehr viel Zeit mit ihrem Tee, aber wenn sie ausgetrunken hatte, dann waren ihre Eltern meistens fertig mit der Tat, die einst so liebevoll zur 'Akt der Liebe' getauft worden war. Sie beobachtete nochmal die düstere, stürmische Landschaft und drehte sich dann schließlich um. Ihre Hände zitterten schwitzig, trotz der Kälte. Wie weit ging er diesmal? Musste sie ihre Mutter oder die Leinentücher unter ihr wieder vom Blut befreien?
Die Grünäugige wischte sich ihre Hände an dem abgetragenen Mantel ab, unter dem sich ein ebenso abgenutztes Kleid befand. Ein letztes Mal atmete sie tief durch, ehe sie mit einem Knarren die Tür öffnete.
     Das Haus war gewöhnlich still, die Fenster geschlossen, und die langen fliederfarbenen Gardinen waren zugezogen. Ihr Vater saß auf dem Sessel, sein Blick war kalt und seine Hände zitterten kaum merklich unter dem Buch. Dieselben grünen Augen wie die ihre, blickten ihr entgegen. Élodie wollte schnellstmöglich nach oben zu ihrer Mutter. ,,Vater", grüßte sie ihn höflich als sie ihren Mantel auszog und ihn über den Arm warf. Sie neigte kurz respektvoll den Kopf und ging weiter zur Treppe. Ihre zarte Hand umfasste zitternd das hölzerne Geländer.
     ,,Élodie, mach mir einen Tee. Sofort."
Die Tochter erstarrte auf der Treppe und drehte den Kopf langsam um. Ihr Vater hatte ihr noch nie verwehrt, danach nach ihrer Mutter zu sehen.
      ,,Jawohl, Vater."
      Ihrem Vater würde sie dennoch nie widersprechen, die Konsequenzen wären gravierend. Sie mag vielleicht mutig sein, aber nicht leichtsinnig oder gar tollkühn. Élodie stieg langsam von der Treppe hinunter und marschierte zur Küche hinter ihrem Vater. Das Haus war nicht besonders groß oder besonders schön, aber umso schöner war die Landschaft. Sie kochte ihm schnellstmöglich den Tee, sie durfte keine Zeit verlieren!
     ,,Du bleibst hier", sagte er ohne eine Miene zu verziehen.
     ,,Vater, der Tee steht auf dem Tisch vor Euch. Ich möchte nur eben-", versuchte sie ihm leise zu erklären.
     ,,Du. Bleibst. Hier.", er sprach lauter und betonte jedes Wort während er mit einer hektischen Bewegung aufstand und das Buch auf den Tisch knallte. Die Tasse wackelte gefährlich und kippte beinahe um, Élodie wandte rasch den Blick von ihrem Vater ab und neigte das Haupt. Sie schüttelte vehement den Kopf und knetete die Finger auf ihrem Schoß. ,,Das... Das kann ich beim besten Willen nicht machen Vater! Ich muss mich um Mutter kümmern.."
     ,,Das Weib brauch niemanden mehr, der sich um sie kümmert da wo sie jetzt weilt."
     ,,Was mein Ihr, Vater? Ist sie ausgegangen?", fragte Élodie verwirrt nach. ,,Sie wird wohl nie mehr ausgehen können. Ja, wohl", meinte er ruhiger und setzte sich wieder hin. Nichts an seinen Anblick erinnerte sie an Zuhause, an Sicherheit oder gar Liebe. Seine Augen voller Kälte, der ungepflegte graubraune Bart, die faltige Haut und die verfaulten Zähne erinnerten sie an einem obdachlosen betrunkenen Mann. Die Sorte Männer, die eine junge Frau ungern in der Nacht antreffen würde. Er nahm sich die Tasse Tee in die Hand und trank sie in einem Zug aus.
     Élodie beschlich eine dunkle Vorahnung, und schneller als ihre Manieren es verhindern konnten, sprang sie auf und rannte die Treppen hinauf.
      Sie stieß einen entsetzlichen Schrei aus, als sie die Tür ins Zimmer öffnete und ihre Mutter bewusstlos auffand. Mit Hoffnung in der Brust schritt sie schnell zu ihrer Mutter Manon. ,,Mutter!", kniete Élodie sich vor ihr nieder und ließ die Kleider das Blut aufsaugen, ganz gleich, ob sie wahrscheinlich später Probleme haben würde, das Blut aus dem Stoff zu entfernen. Sie legte ihre Hände um die warmen Wangen ihrer Mutter. Das Mädchen legte dann zwei Finger an den Hals der Frau, genauso wie der Heiler es ihr heimlich beibrachte. Sie konnte nichts spüren, das konnte nicht sein! Tränen fielen ihre zarten, rosa Wangen hinab als sie jetzt zwei Finger an das Handgelenk ihrer Mutter legte. Nichts konnte sie spüren, nur ihre noch anhaltende Wärme.
     Élodie schrie ein weiteres Mal voll Schmerz und lege sich neben ihre Mutter. Noch nie wollte sie so sehr den Weg allen Fleisches gehen. Einfach sterben, dann könnte sie bei ihrer Mutter sein. Aber ihre Mutter hätte das nicht gewollt, sie wollte immer etwas Besseres für Élodie als sie selbst bekommen hat. Ihr Bruder hätte es auch nicht gewollt.
     Sie lag noch lange einfach neben der Frau, die das Mädchen zu Welt gebracht hatte und konnte fühlen wie die Wärme den toten Körper langsam verließ und ihre Tränen versiegten. Zurück blieb nur Schmerz und Leere. Sie hielt die Hand ihrer Mutter fest und stellte sich vor sie würde Élodies Hand auch drücken, bis ihr Vater sie rief, um ihm das Essen zuzubereiten.
Sie durfte mit ihm am selben Tisch essen, auch wenn sie dies heute nicht wollte.
     Die Rothaarige konnte ihm kaum in die Augen schauen, sie wollte diese Grausamkeit nicht in seinen Augen sehen. Obwohl er sie nie so liebte wie Marcell und früher der Platz neben ihm am Tisch stets für die männlichen Mitglieder der Familie reserviert war, so hatte sie tief in ihrem Inneren gehofft, er würde sie eines Tages wertschätzen und sie seinen Stolz spüren lassen. Aber seit der Stunde an, an dem sie den Puls ihrer Mutter nicht mehr fühlen konnte, wollte Élodie seine Anerkennung nicht, sie brauchte die Anerkennung eines Monsters nicht!, redete sie sich ein.
Eine heiße Träne entfloh ihren Augen und ehe sie auf den Tisch tropfte oder ihr Vater sie bemerkte, wischte sie sich diese weg.

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