Ich blinzelte. Als ich meine Hand an meine Stirn legte spürte ich den nassen Lappen. Schnell setzte ich mich auf. Ich war immernoch in meinem Zimmer. Jonathan aber scheinbar nicht. Ich atmete erleichtert aus. Dann bemerkte ich etwas an meinem Hals. Ein Verband? Wer hatte den angelegt? Ich wickelte ihn ab und berührte die Stelle, wo Jonathan mich gebissen hatte. Ich schluckte, wirklich fassen dass er das getan hatte konnte ich immer noch nicht. Eine Gänsehaut breitete sich auf meinem Körper aus als ich mich daran erinnerte, wie chancenlos ich gewesen war. Dieser Druck...
Das war nichts psychisches. Das war ein physischer Angriff da bin ich mir sicher. Aber womit? Mein Herz zog sich zusammen als ich Jonathan wieder vor mir sah, mein Blut an seinem Lippen sein hungriger, kalter Blick und diese Wut darüber dass ich ihm entkommen wollte. Wenn das nun sein wahres Gesicht war? Meine Hand, die ich immer noch an meinen Hals gelegt hatte verkrampfte sich. Tränen liefen mir über die Wange. Vertraut, ich hatte ihm vertraut! Zum ersten Mal seit 7 Jahren hatte ich wieder jemandem mein Vertrauen geschenkt. Aber er hat mich nur verarscht! Mir eine heile Welt vorgegaukelt, mich glauben lassen dass er mir eine Zukunft geben will, mir einen Traum möglich machen will, nur um mich dann töten zu wollen?! Die Tränen liefen immer und immer weiter. Warum hatte er mich angelogen? Ich hatte ihm mein Blut doch zu Anfang angeboten. Warum wollte er es sich auf eine so niederträchtige Art und Weise nehmen? Machte ihm das Spaß?
Auf einmal hörte ich Stimmen. Eine von ihnen hatte ich in den letzten beiden Wochen genau kennengelernt. Seine Stimme zu hören tat weh. Aber die andere kannte ich noch nicht. Ich stand auf, meine Beine waren immernoch etwas wackelig und mein Körper fühlte sich schwach an. Ich musste mich an der Wand abstützen um vorwärts zu kommen. Warum mach ich das? Bin ich dumm? Warum gehe ich zu dem der mich töten wollte? Weil ich antworten will. Und weil ich nirgendwo anders hin kann. Ich will nicht zurück auf die Straße ... .
Als ich den Flur durchquerte konnte ich die Stimmen langsam verstehen, oder auch nicht. Was war das für eine Sprache? Die Tür zum Wohnzimmer/Küche/Esszimmer war nur angelehnt, dort angekommen drückte ich sie auf. Die Stimmen verstummten sofort. Ach ja... Vampire waren ja hypersensibel.
"Timothy...", Jonathan sah mich überrascht an. Für einen kurzen Moment schien er sprachlos, zum ersten Mal sah ich Unsicherheit in seinem Gesicht. Also übernahm der andere für ihn das Sprechen.
"Du bist also Timothy? Freut mich dich kennenzulernen."
Der Andere sah Jonathan sehr ähnlich. Beide waren gleichgroß, beide hatten hellgraue Haare und eisblaue Augen. Nur war der andere muskulöser, seine Haare waren völlig zerzaust (sie glichen eher den meinen denn Jonathans Haare sind glatt) und er trug keine Brille. Außerdem scheint Lächeln für ihn kein Kraftakt zu sein der vielleicht einmal in zwei Wochen oder mehr vorkommt.
"Ich heiße William Bloods."
Ich ignorierte William Bloods und richtete meine Aufmerksamkeit auf Jonathan Bloods.
"Warum hast du das getan? Ich hatte es dir doch angeboten. Warum hast du mich angelogen? Warum musstest du mir erst eine heile Welt vorspielen? Nur um dann alles zu zerstören? Macht dir das Spaß?"
Während ich sprach kamen mir wieder die Tränen. Es tat so sehr weh. Ich weinte und wurde beim Sprechen immer lauter bis ich verstummte. Dann spürte ich auf einmal wie mich jemand in den Arm nahm. Den Geruch erkannte ich sofort. Jonathan.
"Es tut mir leid Timothy. Es tut mir so leid. Ich war nicht ich selbst. Wenn ein Vampir zu lange auf Blut verzichtet, setzt sein Verstand aus. Der Körper zwingt einen dann praktisch sich auf das nächstbeste Opfer zu stürtzen und das warst nunmal leider du. Es tut mir leid ich hätte Vorkehrungen treffen müssen. Ich wollte dich nicht verletzen."
Seine Stimme war während er sprach trocken und rau, doch ich hörte die Reue deutlich raus.
"Warum soll ich dir das jetzt glauben?", schluchzte ich.
Sein Körper verkampfte sich.
"Ich weiß es nicht."
Er hielt mich noch ein bisschen dann ließ er mich los. Ich musste mich wieder an die Wand lehnen um stehen zu können.
"Du hast den Verband abgemacht.", bemerkte er und drehte mein Kinn sanft um sich die Stelle genauer ansehen zu können.
"Sie ist weg."
"Was?", die Frage kam von William der bisher nur unbeteiligt rumgestanden hatte.
"Na die Bisswunde. Sie ist schon völlig ausgeheilt und man sieht nichts mehr."
"Na du hast ja sowieso nie was gesehen.", meinte William und kam auch zu uns um sich meinen Hals auch anzusehen.
"Tatsache."
Ich stolperte ein paar Schritte zurück. Von zwei Vampiren belagert zu werden die meinen Hals anstarrten war mir doch irgendwie unangenehm.
"Das war bei mir schon immer so.", sagte ich und versuchte dabei unbeschwert zu klingen.
"Egal was ich mir für Wunden zugefügt habe, spätestens am nächsten Tag waren sie weg. Auch Knochenbrüche brauchen bei mir nur etwa eine Woche. Die Ärzte haben dafür nie eine Erklärung gefunden."
Die Zwillinge sahen sich an.
Dann zuckte Jonathan auf einmal zusammen. Er senkte den Kopf und ich konnte sein Gesicht nicht mehr sehen, aber er schlang seine Arme um seinen Körper und zitterte. Er hatte also offensichtlich Schmerzen.
"Hey John? Was ist los?"
John? Hatte er etwa auch bei seinem Namen gelogen? Jonathan antwortete nicht sondern wankte gegen den Türrahmen. Dann schien er sich zu entspannen.
"Nichts", keuchte er, "geht schon wieder."
William schien von der Antwort alles andere als begeistert.
"Was soll das heißen, nichts? Warum müsst ihr eigentlich immer so tun als sein alles in Ordnung? Immer wenn ihr so eine Frage mit Nichts beantwortet kann man euch entweder glauben oder muss damit rechnen dass ihr in den nächsten 5min tot umfallt!"
Ihr?
"Wieso ihr?", hakte ich nach.
"Weil unser großer Bruder genauso ist!", antwortete William grimmig.
"Es ist wirklich nichts.", kam es jetzt wieder von Johnathan, allerdings klang er dabei ziemlich schwach. Ich sah auch Schweiß an seiner Stirn runterlaufen und er schien sich auch an den Türrahmen drücken zu müssen um stehen zu können.
"Jaja wer's glaubt.", brummte William.
"Nur was falsches gegessen oder so."
"Was falsches gegessen?? Du bist seit 600 Jahren Koch! Ich denke du weißt was essbar ist!"
Dann krümmte Jonathan sich wieder, diesmal schien es aber noch schmerzhafter zu sein als vorher denn ich konnte einen unterdrückten Schmerzenslaut von ihm hören und er sank auf den Boden.
"Du Will? Ich glaub mir geht's echt nicht gut...", es war kaum mehr als ein flüstern aber gut zu verstehen. William wurde jetzt bleich.
"Vielleicht hat er wirklich was falsches gegessen.", meinte ich.
William schüttelte den Kopf.
"Vampire können sich keine Lebensmittelvergiftung holen. Dafür sind ihre Selbstheilungskräfte und ihr Immunsystem zu stark. Um so eine Reaktion hervorrufen zu können hätte er schon Gift schlucken müssen. Starkes Gift."
Er hockte sich neben Jonathan.
"Kannst du aufstehen?"
"Glaubst du ich würde hier liegen wenn ich es könnte?", presste der am Boden liegende sarkastisch hervor.
"Tja solange du noch Nerven hast Sarkastisch zu sein ist ja alles nicht so schlimm. Ich geh dann Mal telefonieren." Damit ließ er uns allein.
"Arsch!", zischte Jonathan und versuchte sich aufzurichten. Jedoch kam er nur auf alle Viere. Bei dem Versuch seinen Oberkörper aufzurichten entfur ihm ein Schmerzensschrei. Er tat mir wirklich leid. Das was er jetzt durchmachte war schlimmer als das, was er mir angetan hatte. Seine Erklärung war ja auch logisch gewesen.... irgendwie...
Ich beugte mich zu im Runter und half ihm auf die Beine. Jetzt war es von Vorteil für ihn dass ich etwas über einen Kopf kleiner war als er. So musste er sich nicht völlig aufrichten, zumal ich das auch nicht tat, weshalb er wirklich sehr gebeugt gehen konnte. Ich half ihm so auf seinen Sellel, wo er sofort eine gekrümmte Sitzhaltung annahm. Wenig später kam William wieder.
"Halt noch etwas aus. Es wird bald jemand kommen der dir helfen kann."
"Wie und wer?"
"Eine sehr zuverlässige Ärztin, die sich auch auf Vampirkrankheiten und Heilungsvorgänge bei Vampiren spezialisiert hat. Sollte mein Körper beschädigt werden ist sie mein Plan b."
"Bitte sag mir dass sie keine deiner Flittchen ist?"
"Nein, sie dürfte die einzige Frau in unserer Altersklasse sein, die ich kenne und mit der ich nicht im Bett war."
"Wieso? Ist sie hässlich?"
Langsam fühlte ich mich fehl am Platz...
"Nein im Gegenteil. Sie wollte es nur nie. Sie sieht mich nur als einen Freund und jeder Annäherungsversuch meinerseits wird abgeblockt."
Bevor das Gespräch noch tiefer in die Materie ging und ich Dinge hörte die ich erst Recht nicht hören wollte, räusperte ich mich um auf mich aufmerksam zu machen.
"Oh", kam es von Jonathan, "tut uns leid Timothy. Wie fühlst du dich? Ich bin vorhin gar nicht dazu gekommen dich das zu fragen."
"Äh," die Frage kam unerwartet. Ja wie ging es mir denn. Erst jetzt viel mir auf dass ich mitten im Raum stand, ohne mich irgendwo abzustützen und ich einen Mann, ebenfalls ohne Stütze, der viel schwerer und größer war als ich, quer durch den Raum gehieft habe.
"Ganz gut. Beim Aufstehen hab ich mich noch schwach und schwindelig gefühlt aber inzwischen bin ich wohl wieder ganz bei Kräften."
Jonathan lächelte. Er sah sichtlich erleichtert aus und lehnte sich etwas zurück.
"Das freut mich sehr.", sagte er dann in einem sanften Ton den ich so noch nicht von ihm gehört habe. Er war, ja, liebevoll. Dann verzog er wieder dass Gesicht, krümmte sich und kniff die Augen zusammen. Ich sah wie er sich auf die Lippe biss und der Schweiß von seiner Stirn perlte. Dann erinnerte ich mich an die Schüssel mit kaltem Wasser, die noch in meinem Zimmer stand und den Lappen, der auf meiner Stirn lag als ich aufwachte. Ich ging schnell in mein Zimmer holte beides brachte es zurück in den Wohnbereich und wusch den Lappen aus. Dann ging ich zu Jonathan, kniete mich neben ihn, tunkte den Lappen ins Wasser und wischte ihm über die Stirn. Ich sah wie der Meister sich etwas entspannte und mit einem Auge zu mir schielte. Ich lächelte ihm zu und nahm ihm dann die Brille ab um besser mit dem Lappen arbeiten zu können. Er schloss die Augen wieder und schien es zu genießen. Ich fuhr ihm mit dem Lappen über die Stirn, seine Schläfen und seine hohen Wangenknochen. Jetzt bemerkte ich erst wie schlank mein Meister eigentlich war. Ich meine der Typ ist Koch, ist meinetwegen fast die ganze Nacht und sieht immernoch aus als würde er sich nur von Salat ernähren. Ich hatte ihn auch noch nie ohne Brille gesehen. Ohne die Runde Brille wirkte sein Gesicht noch schlanker. Nach einiger Zeit war der Atem des Meisters ruhig und regelmäßig und er bewegte sich nicht mehr. Wir ließen ihn schlafen und zogen die schweren, schwarzen Vorhänge zu.

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Timothy
VampireSeit über 600 Jahren reist der Koch Jonathan Bloods schon um die Welt und entdeckt immer wieder neue Gerichte und verbessert so seine Fähigkeiten. Er ist schon lange als König der Kulinarik bekannt. Doch dann trifft er auf den Straßenjungen Timothy...