Kapitel 3

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Zwanzig Minuten später bogen wir in eine unbekannte Einfahrt und parkten das Auto. Ich schnallte mich ab, stieg aus dem Wagen und schloss die Tür.

Beim Hochschauen erblickte ich ein riesiges Gebäude, das dringend renoviert werden musste. Einige Fenster hatten Sprünge oder waren so schmutzig, dass man das Innere kaum erkennen konnte. Es schien, als stünde ich vor einem Internat, das eher für einen Horrorfilm geeignet war als für Schüler.

Mein Vater ging um das Auto zum Kofferraum, um meinen Koffer herauszuholen. Dann kam er zu mir und ergriff meine Hand, aber ich wich aus. Was sollte das? Warum brachte er mich in ein Internat, das nicht einmal einladend aussah?

Schweigend standen wir einfach nur da und warteten. Kurz darauf öffnete sich die Tür des Internats, und eine große, schlanke Frau trat nach draußen. Sie kam auf uns zu, und hinter ihr schloss sich die Tür von allein.

Die Frau schien um die dreißig Jahre alt zu sein und trug eine dunkelblaue Bluse sowie eine weiße Jeans.

Ihre braunen Haare trug sie offen, und strahlend blaue Augen leuchteten mich erwartungsvoll an. Sie drückte meine Hand. „Du musst wohl Liv Sinclair sein. Ich heiße Katherine Glee, aber ich bitte dich dennoch, mich Miss Glee zu nennen."

Kurz darauf ließ sie meine Hand los, um die meines Vaters zu ergreifen. „Es ist schön, dich wiederzusehen, Rodrigo."

„Ganz meinerseits, Katherine."

„Wieso darf er Sie bei Ihrem Vornamen ansprechen?"

„Rodrigo darf mich bei meinem Vornamen ansprechen, weil wir uns schon eine ganze Weile lang kennen."

„Ich brauche dafür einige Details. Mit einer Weile kann ich nichts anfangen."

„Sei nicht so neugierig", sagte Vater.

„Wieso? Darf ich etwa nicht misstrauisch sein?"

„Es gibt keinen Grund, misstrauisch zu sein, da ich Mrs. Glee voll und ganz vertraue und ich wünsche mir, dass du ihr eines Tages genauso viel Vertrauen entgegenbringst wie ich es tue."

Flüsterte er mir leise ins Ohr. So leise, dass nur ich seine Worte hören konnte. Nun schaute er einige Sekunden in meine graublauen Augen.

Kurz darauf drückte er mich ein letztes Mal an sich, und ich schloss für einen Moment die Augen. Erlebnisse aus meiner frühen Kindheit tauchten plötzlich vor meinen Augen auf.

Mit drei Jahren stand ich mit meinem Vater vor einem Eisladen, bettelte um ein Schokoladeneis, doch er ignorierte meine Bitte und ging weiter Richtung Ziel.

Dieses Bild verschwand, und ein weiteres tauchte auf. Nun lag ich in den Armen meines Vaters auf einer Beerdigung, umgeben von Grabsteinen. An diesem Tag wurde ich einen Monat alt und hatte gerade meine Mutter verloren. Um uns herum standen Menschen in Schwarz, ihre Gesichter verborgen hinter Tränen, die über ihre Wangen liefen.

Auch dieses Bild verschwand, und die grausame Wirklichkeit holte mich zurück. Ich öffnete die Augen und sah meinen Vater, der mich noch immer festhielt.

Ich löste mich aus seiner Umarmung, und er versuchte, Blickkontakt aufzunehmen. Ich vermied den Blick und versuchte, an seiner Körperhaltung Gefühle abzulesen, doch ich erkannte nichts.

Ich spürte, wie die Tränen aus meinen Augen zum Vorschein kommen wollten, doch ich blinzelte sie fort.

Ich werde nicht weinen, denn Weinen zeigt, wie schwach und hilflos ich mich fühle. Ich weiß, dass ich Zeit brauchen werde, mich hier einzuleben, und diese Zeit werde ich mir nehmen.

„Es ist so weit. Ich muss jetzt gehen. Ich habe dich immer geliebt, und auch jetzt hat sich nichts daran geändert. Ich weiß, dass du viel Mist gebaut hast, aber jeder Mensch hat seine Stärken und seine Schwächen. Eines Tages werden wir uns wiedersehen, du hast mein Wort!"

„Dann bis bald, Vater!" erwiderte ich monoton.

Nun verabschiedete er sich von Miss Glee und stieg in sein Auto zurück, um wieder nach Hause zu fahren – ohne mich, seine einzige Tochter, die er vielleicht bald nie wiedersehen würde.

Schweigend nahm ich meinen Koffer in die Hand und ging zuversichtlich auf das Internat zu. Mrs. Glee ging voran und öffnete mir den Eingang, um mich als Erste eintreten zu lassen. Ich betrat einen großen Saal.

Das Tageslicht durchflutete den ganzen Raum und erleuchtete sein Inneres. Der Raum erinnerte mich an eine große Halle, und ich fragte mich, wie das Äußere so hässlich sein konnte und das Innere so schön war.

An der Decke hing ein Kronleuchter, und neben den Fenstern waren Gardinen eingebaut. „Bitte folge mir, ich zeige dir dein Zimmer."

Wir stiegen eine lange Wendeltreppe hinauf in den ersten Stock. Danach ging es weiter den Flur entlang, bis wir vor einer Tür mit der Nummer dreizehn standen.

Zimmer Nummer 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt