Kapitel 2

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„Was hast du mir noch verschwiegen? Warum muss ausgerechnet heute, an einem Montag, mein Weg auf ein Internat führen? Warum nicht schon vor einigen Monaten?" fragte ich erschüttert.

Mein Vater schwieg betroffen, bevor er antwortete: „Deine Mutter hätte es so gewollt. Bitte stell keine weiteren Fragen. Wir müssen los, Miss Glee wartet nicht gerne." Deine Mutter hätte es so gewollt. Was sollte das bedeuten? Und wer zum Teufel ist Miss Glee?

„Weißt du was? Du enttäuschst mich. Mein ganzes Leben habe ich versucht, perfekt zu sein, nur um dir zu gefallen. Aber anscheinend siehst du nur die vielen Fehler, die ich gemacht habe. Du hast nicht mal versucht, mich zu verstehen. Du greifst nach dem nächstbesten Mittel, und das wäre, mich von diesem Ort wegzubringen, meinem Zuhause."

Gebannt riss er seine Augen auf. Anscheinend hatte ich ins Schwarze getroffen. „Steig ins Auto. Ich komme gleich nach", meinte er nur, bevor er mir seine Autoschlüssel zuwarf.

Ich fing den Autoschlüssel gekonnt auf. Mich durchzusetzen, wäre zwecklos gewesen, das wusste ich aus eigener Erfahrung. „Weißt du was? Du kannst mich mal." Ich zeigte ihn den Mittelfinger und rannte nach draußen, auf unsere Einfahrt, wo unser Auto bereits wartete. Dort ließ ich mich auf den kühlen, steinigen Boden nieder. Eine Träne bahnte sich den Weg über meine Wange. Langsam verwandelte sich meine Wut in Trauer und Verzweiflung.

Was hatte ich nur getan? In der Schule verachteten mich die Lehrer wegen meines unangebrachten Verhaltens. Die meisten Schüler gingen mir aus dem Weg, aus Furcht, und einige Schüler bemitleideten mich, was mich irgendwie ankotzte. Meine einzige und beste Freundin, Paris Turner, verhielt sich in meiner Anwesenheit halbwegs normal. Tief ein- und ausatmend versuchte ich mich zu beruhigen.

Meine wahren Gefühle zeigen kam nicht infrage. In der Welt unter Menschen verhielt ich mich meist rücksichtslos und unangebracht. Doch wenn ich allein war, zeigte ich mich wehrlos und verwundbar, so wie jetzt.

Ich wusste nicht, wie lange ich schon auf dem kühlen, steinigen Boden saß, doch irgendwann hörte ich Schritte und ich setzte ein falsches Lächeln auf. „Ich dachte, du sitzt schon im Auto", erklang die Stimme meines Vaters. Kurz darauf tauchte er hinter einem Busch auf und kam zu mir.

„Tja, wie du siehst, habe ich mich noch nicht in dein Auto gesetzt." Ich öffnete das Auto, indem ich auf einen roten Knopf auf dem Autoschlüssel drückte. Die hinteren Lichter blinkten, und ich nahm im hinteren Beifahrersitz Platz. Mein Vater setzte sich vorne ans Steuer, startete den Motor, und kurz darauf fuhren wir los. Die Musik im Auto blieb aus, und ich lehnte mich weiter zurück. Mein Vater fuhr durch unsere Heimatstadt, nahm dann Kurs auf die Autobahn. Verschiedene Landschaften zogen vorbei, doch ich schenkte ihnen keine Beachtung. Eine Müdigkeit übermannte mich, und meine Augen fielen von alleine zu.

Liv Sinclair stürzte durch ein schwarzes Loch, immer tiefer und tiefer. Bald fand sie sich in einem kühlen Meer wieder, Salzwasser klatschte in ihr noch trockenes Gesicht. Sie sank, immer tiefer, bis sie auf den sandigen Meeresboden aufprallte. Liv versuchte, nach Luft zu schnappen, doch sie versagte. Das salzige Wasser strömte stattdessen durch ihre Lunge, und sie versuchte panisch, mit ihren Armen an die Wasseroberfläche zu gelangen – vergebens.

„Liv, wach auf, wir sind gleich da", durchdrang eine bekannte Stimme ihren Traum – die Stimme ihres Vaters. Ich schreckte aus meinem Traum auf und schnappte nach Luft.

„Wo bin ich?", fragte ich etwas verloren. Das kühle Wasser um mich herum spürte ich noch immer, doch langsam kehrte ich aus dem Traum in die reale Welt zurück.

„Du bist immer noch bei mir im Auto. Du hast nur schlecht geträumt. Ich habe dich im Schlaf reden hören. Du hast um Hilfe geschrien."

„Wann sind wir da?"

„Wir brauchen nur noch zwanzig Minuten, dann werden wir da sein."

„In zwanzig Minuten werden wir da sein? Wie viel Zeit ist vergangen, seit ich geschlafen habe?"

„Es sind fünf Stunden vergangen. Du hast fünf ganze Stunden geschlafen", antwortete mein Vater auf meine Frage.

Zimmer Nummer 13Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt