Kapitel 12

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Lilian

Schon den ganzen Morgen hatte ich ein flaues Gefühl in der Magengegend, aber meine Mutter hatte schon klar gemacht, dass ich nicht zuhause bleiben würde. Wir wussten beide, was der Grund dafür war. Dabei gab es eigentlich keinen wirklichen, denn Kayla und ich hatten uns gestern darauf geeinigt, dass ich bei der Vorstellung unserer Idee heute bloß Klavier spielen und Kayla singen würde. Natürlich war mir bewusst. Dass ich über lange Sicht nicht darum herum kommen würde, selbst zu singen, aber diesen für mich wirklich fürchterlichen Moment wollte ich so lange herauszögern, wie nur irgend möglich.

Harper wusste, wie aufgeregt ich war, weshalb sie mich auf der kurzen Autofahrt zur Schule so gut es ging ablenkte. Ich war ihr wirklich dankbar, denn diese kleine Geste zeigte mir mal wieder, wie toll unsere Freundschaft war. „Lass uns doch morgen wieder zum Strand und Surfen", schlug Harper vor, während sie ihr Auto in eine Parklücke setzte. Natürlich stimmte ich sofort zu.

Was meine Laune wenigstens ein bisschen verbesserte war, dass Mr. Bishop mich heute nicht wieder vor dem gesamten Psychologie-Kurs ermahnen konnte, nicht wieder zu spät zu kommen. Schließlich war ich pünktlich. Heute war die Psychologie-Stunde zum Glück nicht ganz so schlimm wie sonst, denn wir hatten heute bei einer Vertretung Unterricht. Der Tag fing gar nicht so schlimm an. Trotzdem rutschte ich zum Ende der Stunde nervös auf meinem Stuhl hin und her, bis Harper mich festhielt. „Hör jetzt endlich auf, du machst mich ja langsam auch verrückt",  sie schüttelte den Kopf und schmunzelte.

Gleich war es soweit. Ich hatte mich gerade von Harper verabschiedet, die jetzt auf dem Weg zu Mathe war und ging etwas langsamer als sonst zum Kursraum. Kayla erwartete mich schon vor der Tür und redete mir Mut zu, was ich absolut gar nicht erwartet hätte. Die nette Kayla gruselte mich immer noch ein bisschen. Ms. Anderson betrat den Musikraum so verpeilt wie immer und wühlte sich erstmal durch einen Haufen Notizen. „Ach ja genau, wir wollten uns ja heute die ersten Ideen der Gruppen anhören." Meine letzte Hoffnung, dass sie es vielleicht vergessen hatte, war damit auch hin. Also würde ich mich dem ganzen jetzt stellen müssen. Wenn mir selbst das Klavier spielen vor anderen unangenehm war, wie sollte es demnächst dann erst mit dem Singen werden.

Ms. Anderson schrieb die Reihenfolge der Gruppen an die Tafel und als wäre ich nicht schon genug gequält worden, waren Kayla und ich auch noch als vorletzte dran. Schon die erste Gruppe hatte noch gar nichts zu präsentieren und durfte sich erstmal knappe zehn Minuten eine Moralpredigt von Ms. Anderson anhören. Der Song von Lia und Mary klang echt gut und mir gefiel die Melodie. Eine Gruppe traf so gar nicht meinen Geschmack, aber die meisten hatten echt gute Sachen vorbereitet. Jetzt kam der Moment der Wahrheit denn Kayla und ich waren dran. Ich musste unbedingt das Zittern meiner Hände in den Griff bekommen, denn so konnte ich ganz sicher nicht Klavier spielen. Wir hatten uns darauf geeinigt, kurz zu erklären, was unsere Idee hinter dem Lied war und diese Aufgabe hatte ich. „Wir wollten ein Lied schreiben, das auf uns beide zutrifft. Da wir beide schon umgezogen sind und dadurch Freunde aus den Augen verloren habendachten wir, das wäre ein gutes Thema für unseren Song."

Kayla warf mir einen Blick zu, unser Signal anzufangen. Reiß dich zusammen, Lilian, betete ich mein Mantra runter und begann die ersten Töne zu spielen, dann sang Kayla den Refrain.

[Original: Taylor Swift - Breathe]

And we know it's never simple, never easy
Never a clean break, no one here to save me
You're the only thing I know like the back of my hand
And I can't breathe
Without you, but I have to
Breathe without you, but I have to do

Okay, das war gar nicht so schlecht, gestand ich mir ein. „Für den Anfang ist das doch schon mal gut", gab uns auch Ms. Anderson positives Feedback. Das war definitiv ein Grund zur Freude. Nach der Stunde klärten Kayla und ich noch schnell ab, dass wir uns Samstagmittag treffen wollten um weiter zu arbeiten, da wir Dienstag wieder Chor hatten. Zwar erwartete Ms. Anderson, nicht, dass wir bis dahin wesentlich mehr hatten, sondern in der Stunde weiterarbeiten sollte, aber Feedback schadete nie und das würden wir sicher zu Anfang der Stunde deutlich ausführlicher bekommen.

In der Pause erzählte ich Harper kurz, wie die letzten zwei Stunden gelaufen waren  und danach verabredeten wir uns für heute Nachmittag. Für mich stand jetzt nur noch Kreatives Schreiben und dann erwartete mich der leckere Auflauf meiner Mum.

Kreatives Schreiben hatte ich genauso wie Chor mit Lia zusammen, also war ich diese letzten Stunden vor dem Wochenende nicht alleine. Während wir, eigentlich, eine Gruppenaufgabe erledigen sollten, unterhielten wir uns über unsere Songs. Wie gesagt, Lia war eine der wenigen Personen, mit denen ich klar kam, aber so richtige Freunde waren wir irgendwie trotzdem nicht.

Schon als ich die Haustür aufschloss, Harper hatte mich zu Hause abgesetzt, roch ich, dass der Auflauf bereits im Ofen war. Ich begrüßte meine Mum und erzählte ihr von meinen kaum vorhandenen Wochenendplänen. Sobald der Ofen piepte, machten wir uns über den Auflauf her und noch während wir aßen kam der berühmte ‚ich bin zuhause'-Anruf von Harper. Wir planten kurz, wann wir uns treffen würden, aber kamen zu dem Schluss, dass es sich doch nicht wirklich lohnte, da Harper heute Abend mal wieder ein Date mit James hatte und ich meiner Mum versprochen hatte, ihr beim Ausmisten von ein paar alten Kisten zu helfen. Woher auch immer dieser Putzwahn plötzlich kam.

In unserem Keller hat sich wirklich aller mögliche Mist, von Zeichnungen, die ich mit maximal vier Jahren angefertigt hatte, bis hin zu Klamotten meiner Mum, die mit Sicherheit in den Achtzigern zuletzt getragen wurden angehäuft. Während wir also ausmisteten, unterhielten wir uns, bis wir auf die Arbeit meiner Mum zu sprechen kamen. „Da fällt mir ein, dass ich nächsten Dienstag für zwei Tage nach New York muss", erwähnte meine Mutter nebenbei. Ich konnte es nicht verhindern, dass mir „schon wieder" hinausrutschte. Meine Mum schaute mich mit einem leicht vorwurfsvollen Blick an, schmunzelte dann aber. „Solange du nicht über meinen Geburtstag nächsten Monat weg musst, ist alles okay", erwiderte ich daraufhin noch. Meine Mum schüttelte bloß den Kopf: „Andere würden sich freuen, wenn sie an ihrem 18. Geburtstag das Haus für sich haben. Um eine Party wirst du mit einer Freundin wie Harper sowieso nicht herum kommen. Aber keine Sorge, ich habe mir jetzt schon Urlaub genommen. Den 18. Geburtstag meiner Tochter verpasse ich doch um kein Geld der Welt.

Abends lag ich in meinem Bett und wusste nicht so richtig, was ich mit mir anfangen sollte. Es war noch relativ früh und Harper war mit Sicherheit noch nicht von ihrem Date zurück. Müde war ich aber auch nicht. Kurz überlegte ich, ein Workout zu machen, verwarf den Gedanken aber genauso schnell, wie er gekommen war. Im Hintergrund schaltete ich eine Serie an und widmete meine Aufmerksamkeit dann meinem Kleiderschrank. Ein paar Klamotten aussortieren würde bestimmt nicht schaden.

Gerade als ich fertig war, vibrierte mein Handy und signalisierte mir, dass ich eine Nachricht hatte. Ich konnte mir allerdings nicht vorstellen, dass Harper schon zurück war, also schaute ich neugierig nach. Die Nachricht war tatsächlich nicht von ihr, sondern von Caleb. Sie bestand nur aus einem einzigen Wort und trotzdem ließ es mein Herz schneller schlagen. FaceTime? Damit betrachtete ich meinen Freitagabend als gerettet. Natürlich war ich super nervös, aber am Handy zu reden viel mir etwas leichter, als persönlich. Die Logik dahinter musste ,man nicht verstehen Das tat ich auch nicht.

Also schrieb ich schnell Gerne zurück und keine Minute später klingelte mein Handy und Calebs Gesicht tauchte auf dem Display auf, als ich annahm. Kurz führten wir Smalltalk. Ich hasste das eigentlich, aber mit Caleb war es nicht so schlimm. Danach fragte ich ihn dann über seinen Urlaub aus. Das Gespräch beendeten wir erst, als mir immer wieder die Augen zufielen. Kein Wunder, schließlich hatten wir ganze zweieinhalb Stunden geredet. Als ich dann sah, dass ich zwei verpasste Anrufe und mehrere Nachrichten von Harper hatte, überkam mich kurz ein schlechtes Gewissen, sah dann aber, dass es absolut keine negativen Nachrichten waren. Sie machte sich eher über mich lustig, natürlich rein freundschaftlich. Ich schrieb bloß, dass wir morgen reden würden und ich todmüde war, dann kuschelte ich mich in meine Bettdecke und schlief schnell ein.

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