Eine Nacht voller Alpträume und nur sehr leichtem Schlaf lagen hinter ihr. Ihre Augen waren verquollen und sie fühlte sich einfach nur unheimlich elend.
Sie hatte solche Angst vor den kommenden Stunden, dass sie sich gar nicht traute, unter ihrer Decke hervor zu kriechen. Sie hätte viel darum gegeben, dass Joe ihr die Nachricht von der Rückkehr seines Chefs erst heute überbracht hätte. Dann hätte sie zumindest heute Nacht viel ruhiger sein können.
Für eine Sekunde überlegte sie, ob sie dessen Anweisung ernst nehmen und sich ein bisschen hübsch machen sollte. Doch dann verwarf sie diese Überlegung fast augenblicklich. Sie würde keinen Handschlag tun. Das wäre für sie sonst ein Zeichen, dass sie sich kampflos ergab. Und das, beschloss sie, würde unter keinen Umständen geschehen. Sie würde bis zur letzten Sekunde kämpfen.
Die Zählung und auch das Frühstück verliefen wie an den Tagen zuvor. Ophelia hätte gerne gewusst, zu welcher Zeit sie mit der Rückkehr des Boss rechnen musste, doch sie verbat sich, Joe danach zu fragen. Sie würde sich keine einzige Schwäche ihm oder den anderen Männern gegenüber leisten. Also tat sie so, als wäre dieser Tag wie jeder andere. Oder versuchte es zumindest.Der Mittag ging vorüber und der Hofgang verlief auch wie sonst. Doch dann rückte der Abend näher und Ophelia ahnte, dass es nun nicht mehr lange dauern würde. Das lange Warten zermürbte sie innerlich. Sie war unruhig und nervös. Um den Stress ein wenig zu mildern, lief sie langsam in ihrer Zelle auf und ab.
Immer wieder sah sie zu der Zelle ihres Beobachters hinüber. Der Anblick, der sich ihr bot, machte die Situation auch nicht besser. Er stand in seiner Zellentür und hatte die Arme über seinem Kopf auf die Gitterstäbe über der Tür gelegt. Lässig stand er da und sah zu ihr hoch. Schon den ganzen Tag über. Egal zu welcher Zeit Ophelia zu ihm hinüber sah. Dieser Mann war dermaßen unheimlich, dass Ophelia sich irgendwann dazu zwang nicht mehr zu ihm hinzusehen.
Eine weitere halbe Stunde verging, bis Ophelia hörte, wie die Tür, durch welche die Wärter die Halle betraten, geöffnet wurde. Sie begann augenblicklich zu zittern. Sie wusste, dass nun der Augenblick der Wahrheit gekommen war.Sie sprang auf und ging zu ihrer Zellentür. Ihr erster Blick galt der Zelle ihres Beobachters. Merkwürdig, er war nicht mehr dort. Gehetzt ließ sie den Blick schweifen, doch sie konnte ihn nirgends entdecken. Stattdessen sah sie zwei Wachmänner, die einen Mann zwischen sich führten.
Ihr gefror das Blut in den Adern. Der Mann war groß und breitschultrig. Sein Blick war finster und Ophelia verlor augenblicklich alle Hoffnung. Bei dem Gedanken, auch nur eine Minute lang mit diesem Mann in einer Zelle sein zu müssen, wurde ihr schlecht.
Sie beobachtete, wie er zu einer Zelle auf ihrem Gang, aber um einige Meter entfernt, gebracht wurde. Dort wurde er lautstark von seinem Zellenkumpel begrüßt. Es folgten Schulterklopfen und Händeschütteln. Ophelia fragte sich unwillkürlich, ob auch nur eine dieser freundschaftlich wirkenden Handlungen tatsächlich freiwillig ausgetauscht wurde, oder ob jede einzelne aus kühler Berechnung vollzogen wurde, um Gunst zu gewinnen.
Sie konnte zwar nicht verstehen, was im Einzelnen gesprochen wurde, doch sie glaubte nicht, dass es lange dauern würde, bis der Boss über sein „Geschenk" informiert werden würde.
Sie sollte Recht behalten.
Auf eine kurze, plötzliche Stille folgte wieder das nun schon sehr vertraute Johlen. Nur noch um einiges lauter als sonst.
Dann hörte sie die schweren Schritte, die sich auf ihre Zelle zu bewegten.
Sie verkroch sich wieder in den hintersten Winkel ihres Betts, doch ihr war klar, dass das diesmal genauso wenig helfen würde wie die Male zuvor.
Der Moment war gekommen. Der Mann trat vor ihre Zelle. Er baute sich vor der Tür auf und warf damit einen so großen Schatten, dass kaum mehr Licht in die Zelle fiel.
Ophelia begann leise zu schluchzen. Sie konnte einfach nicht anders. Egal, ob Joe sie davor gewarnt hatte oder nicht.
Der Boss starrte sie erst einige Sekunden an und begann dann lautstark zu lachen. Die Männer, die nach und nach hinter ihm erschienen waren, stimmten in das Gelächter ein.
Dann schlug er mit Joe, der neben ihm aufgetaucht war, ein und sagte.
„Das nenne ich wirklich eine Überraschung. Du hast was gut bei mir."
Joe grinste selbstgefällig.
Nun betrat der Boss die Zelle. Wenn es nur irgendwie möglich war, krümmte Ophelia sich noch weiter zusammen.„Hallo mein Schätzchen!"
Er beugte den Kopf, um sich auf das untere Bett setzen zu können. Dann hob er die Hand, um ihr sachte über die Wange zu streichen. Als sie das sah, drehte sie ruckartig den Kopf zur Seite und wehrte seine Hand mit vor ihrem Gesicht gekreuzten Fäusten ab.
Der Boss ließ sich diese Gegenwehr nicht gefallen. Er packte ihre Hände und zog sie auseinander.
„Was hast du denn? Glaubst du etwa, dass du nicht hübsch genug bist, um mir zu gefallen? Keine Sorge, darauf kommt es mir gar nicht so sehr an. Ich bin absolut nicht oberflächlich."
Ophelia versuchte den Augenkontakt mit ihm zu vermeiden, doch wie schon Joe vor ihm, packte er ihr Kinn und zwang sie dadurch, ihn anzusehen.
„Oh, du hast ja blaue Augen. Ich mag blaue Augen. Meine Exfrau hatte auch blaue Augen. Du wirst mich wahrscheinlich noch oft an sie erinnern. Und jetzt lass dich mal komplett in Augenschein nehmen."
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Worth of Freedom
AdventureOphelia erwacht in Fox River, doch sie ist sich keines Verbrechens bewusst. Der ganze Schrecken des Gefängnisalltags bricht über sie herein. Wie soll sie sich nur gegen die Übergriffe der anderen Häftlinge zur Wehr setzen? Und wer ist dieser Mann...