"Rapunzel lass dein Haar herunter."

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Sie hatte nicht vor, sich diesem Boss kampflos zu ergeben. Sie inspizierte zum nun wohl tausendsten Mal ihre Zelle, doch es war einfach kein Gegenstand verfügbar, der sich als Waffe eignete. Dies war immerhin ein Gefängnis.
Sie sah an sich herunter. Könnte sie vielleicht ihren Ärmel als Würgeschlinge verwenden?
Oder ihm das Kissen aufs Gesicht pressen?
Sie holte tief Luft. Es half alles nichts. Sie würde wohl kaum eine Gelegenheit bekommen, den Mann offensiv anzugreifen. Sie konnte eigentlich nur darauf hoffen, ihn mit einem Tritt zwischen die Beine fürs erste unschädlich zu machen. Aber auch das wäre nur eine kurzzeitige Ablenkung. Und es war mehr als unwahrscheinlich, dass der Mann ihr die Gelegenheit für einen solchen Angriff geben würde. Und danach würde er sie wohl umso härter für ihre Gegenwehr bestrafen.
Mutlos sah sie nach draußen. Vor ihrer Zelle waren zwei von Joes Männern postiert. Die Sicherheit, die sie durch seine Gang in den letzten Tagen erfahren hatte, war einigermaßen beruhigend gewesen. Allerdings hatte diese Medaille auch eine zweite Seite. Falls unter den Häftlingen irgendwo ein paar anständige Männer waren, die ihr vielleicht zu Hilfe eilen könnten, dann würden Joe und seine Männer dies mit ebenso großer Sicherheit verhindern.
In den letzten Tagen war sie ab und zu einige Schritte vor ihre Zelle getreten. Sie wurde dabei immer sofort von den beiden Wachen eskortiert. Und nach einigen Schritten wurde sie von diesen auch immer zurückgehalten. Ihr Bewegungsspielraum war also sehr begrenzt. Doch sie beschloss diese kleine Freiheit auch heute auszunutzen. Wer wusste schon, wie viel Freiheit ihr dieser Boss noch zugestehen würde.

Also stand sie auf und ging langsam aus ihrer Zelle. Auch das war etwas, das sie hier in den ersten Tagen gelernt hatte. Keine hastigen Bewegungen machen. Viele der Häftlinge waren mehr als nervös und standen ständig unter Anspannung, da sie immer auf Angriffe der anderen Insassen gefasst sein mussten.
Ihre Wächter bemerkten sie und richteten sich auf. Sie beobachteten jeden ihrer Schritte. Doch Ophelia verließ den unsichtbar abgesteckten Bereich ihrer Freiheit nicht. Sie ging nur ans Geländer und stützte sich mit den Händen darauf ab. Ziellos ließ sie den Blick über die Zellen schweifen. Einzelne Rufe erschollen, um ihre Aufmerksamkeit wecken.
„Hey, die Prinzessin ist wieder auf ihrem Balkon!"
„Rapunzel lass dein Haar herunter!"
„Wann gehst du denn wieder duschen?"
Ophelia ignorierte sie alle. Sie sah nicht mal in die Richtung der Rufenden.
Stattdessen fiel ihr Blick schon beinahe aus Gewohnheit auf die Zelle des Mannes, der sie so oft beobachtete.
Merkwürdig. Die Zelle war leer.
Ophelia runzelte die Stirn. Das war bisher noch nie vorgekommen. Eigentlich hatte sie immer davon ausgehen können, dass der Mann in oder vor seiner Zelle stand oder saß und in den meisten Fällen ihr zugewandt war. Sie ließ ihren Blick an den Zellen entlang wandern, doch er befand sich nicht in ihrem Sichtfeld.
Die Sirene ertönte. Ophelia wäre gerne noch einige Minuten hier draußen geblieben, doch einer der beiden Wächter machte Anstalten auf sie zu zugehen, um sie in die Zelle zu führen. Doch Ophelia wollte sich nicht von ihm berühren lassen und ging deshalb von sich aus zügig in die Zelle zurück. Sie setzte sich auf ihr Bett und behielt die Zelle des Mannes im Auge. Ihrer Erfahrung nach würden die Zellentüren in ein paar Sekunden schließen. Bis dahin mussten alle Häftlinge wieder in ihren Zellen sein. Sonst gab es empfindliche Strafen.
Ophelia spürte, wie sie nervös wurde. Wo war dieser Mann? Was, wenn es nichts Gutes verhieß, dass er nicht schon längst zurück war? Was wenn er etwas plante?
Sie erinnerte sich daran, dass sie ihn heute schon mit ein paar anderen Männern reden gesehen hatte, während er zu ihr hingedeutet hatte.
Da, gerade in buchstäblich letzter Sekunde sah sie, wie der Mann und einer seiner Kumpane auf ihre Zellentür zusprinteten und gerade noch hinein hechten konnten, bevor die Tür sich ganz geschlossen hatte.
Ophelia spürte, dass sie ihre Hände ineinander verschränkt und vor Anspannung fest zugedrückt hatte. Ihre Finger schmerzten schon, sodass sie ihre Fäuste wieder langsam öffnete. Sie sah wieder hinüber.

Die beiden Männer lagen noch auf dem Boden der Zelle und richteten sich langsam wieder auf.
Als ihr Beobachter wieder auf den Beinen war, gab er erst seinem Zellenkumpan die Hand und dann drehte er sich zur Gittertür und sah zu Ophelia hinauf. Er lehnte sich an die Gitterstäbe und ließ sie nicht mehr aus den Augen.
Das war für Ophelia die letzte Bestätigung dafür, dass sein Zuspätkommen und sein ganzes Verhalten irgendetwas mit ihr zu tun hatte. Sie hatte nur noch den Wunsch, sich zu verstecken. Sie zog ihre zwei Decken über sich und entzog sich somit seinem Blick. Auch wenn es für sie schon zuvor klar gewesen war, dass sie heute kein Auge würde zumachen können – jetzt hatte sie dafür absolute Sicherheit. Ihr graute vor dem Morgen. Was auch immer geschehen würde, es würde wohl nichts Gutes sein.

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