"Erstes Vertrauen"

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Der nächste Morgen brach an. Ophelia hatte in dieser Nacht zwar wieder nicht tief geschlafen, doch um einiges besser, als in den Nächten zuvor.
Als die Zellentüren sich öffneten, wartete sie ängstlich ab, was nun passieren würde. Hatte dieser Michael die Wahrheit gesagt? Und würde der Boss sich an den Deal halten?
Sie musste nicht lange warten. Innerhalb kürzester Zeit, standen dieselben Männer wieder vor ihrer Zelle, die diese schon in den letzten Tagen bewacht hatten. Dieser Teil von Michaels Ankündigung stimmte also. Nun war sie gespannt, ob auch der zweite sich erfüllen würde.
Und tatsächlich. Keine halbe Minute später, waren die Männer an ihrer Tür, die sie immer mit Michael zusammen gesehen hatte, während die anderen ihre Posten wieder verließen. Der erste Übergang schien geklappt zu haben.
Allerdings nicht ganz reibungslos. Von ihrem Bett aus hörte sie, wie zwei Männer immer wütender miteinander stritten. Sie konnte allerdings nicht verstehen, um was es konkret ging. Doch dann ging Michael an ihrer Zelle vorbei und sorgte mit ruhiger, aber drohender Stimme für Ruhe. Ophelia fragte sich, warum er eigentlich die Macht hatte, so viele der Häftlinge dazu zu bringen, zu tun, was er sagte. Er schien einfach jedem drohen zu können. Und jeder gehorchte, wenn auch widerwillig. Merkwürdig.
Michael kam wieder zurück und sah in ihre Zelle.
„Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?", fragte er sie mit seiner ruhigen, ernsten Stimme. Ophelia traute ihm nach wie vor nicht über den Weg. Dass er ihr geholfen hatte, hieß noch lange nicht, dass er nicht seine eigenen Pläne mit ihr hatte. Also antwortete sie nur sehr vorsichtig.
„Ja. Zumindest besser als in den Nächten davor."
„Gut. Heute begleiten wir dich zum Frühstück. Bist du soweit?"
Sie nickte und stand auf.
Im Prinzip änderte sich für Ophelia nichts am Ablauf des Frühstücks. Diesmal wurde sie nur von anderen Männern eskortiert.
Die übrigen Häftlinge warfen immer wieder Blicke zu ihnen hinüber. Offensichtlich war der Wechsel des „Personals" nicht unbeachtet geblieben.
Unwillkürlich suchte Ophelia mit ihrem Blick nach Joe und seine Männer. Sie saßen wieder an ihrem Stammtisch und sahen ab und zu zu ihr herüber. Doch ansonsten ignorierten sie sie.
Als sie wieder nach vorne sah, traf sich ihr Blick mit dem Michaels. Sie brach den Blickkontakt sofort wieder ab und sah in eine andere Richtung. Der Mann machte sie nervös.
Sie beteiligte sich nicht an den Gesprächen beim Essen.
Dann war es Zeit für den Hofgang. Diesmal wurde sie von den Männern an die Stelle am Zaun geführt, von der aus Michael sie schon so oft beobachtet hatte. Es war irgendwie komisch, nun an diesem Ort zu sein, den sie so oft ängstlich im Auge behalten hatte.
Unwillkürlich sah sie zurück zu dem Platz, wo sie selbst noch gestern gesessen hatte. Zu Blake und seinen Männern. Doch dann wandte sie sofort den Blick wieder ab. Sie wollte sich nicht mehr an die Zeit erinnern, als sie noch in der Angst vor dem unbekannten Boss hatte leben müssen. Aber war die Situation jetzt eigentlich eine andere?
Michael stand einige Schritte von ihr entfernt und redete mit einem braungebrannten Mann, von dem sie wusste, dass er Sucre oder Fernando genannt wurde. Sie redeten so leise, dass sie nichts von dem Gespräch mitbekam. Dann schienen sie fertig zu sein. Michael drehte den Kopf und sah sie an. Ihre Blicke trafen sich und wie schon die Male zuvor, senkte Ophelia sofort den Blick, um ihm auszuweichen. Sie wusste einfach nicht, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Gerade begann sie zu hoffen, dass er sie einfach nur in Ruhe lassen würde, doch stattdessen setze er sich neben sie ins Gras. Ohne etwas zu sagen. Es kam ihr so vor, als würde er darauf warten, dass sie etwas sagte. Einige Minuten später hatte sie schließlich allen Mut zusammengerafft und fragte so leise, dass sie schon fast glaubte, dass er sie nicht verstehen würde:
„Und welchem 'Boss' hast du mich versprochen?"
Eigentlich wollte sie die Antwort auf diese Frage überhaupt nicht hören, doch andererseits war diese Angst der Grund dafür, dass sie heute Nacht nicht hatte ruhig schlafen können. Und sie wollte endlich Gewissheit über ihr Schicksal. Sie ballte ihre Fäuste und wartete ängstlich auf das, was sie gleich hören würde.
Er antwortete nichts. Nach einigen Sekunden des Schweigens, sah Ophelia vorsichtig zur Seite.
Er hatte ihr den Kopf zugewandt und sah sie einfach nur an. Sie wagte kaum zu atmen. Sie hatte große Schwierigkeiten seinen Blick zu deuten. Sie war erleichtert, dass zumindest keine Verärgerung darin lag. Stattdessen sah sie so etwas wie... Aber nein das konnte nicht sein. Schmerz? Sie musste sich geirrt haben. Doch seine nächsten Worte ließen sie mehr und mehr daran glauben, dass sie seinen Blick richtig interpretiert hatte.

„Nicht jeder hier möchte einen Vorteil aus deiner Situation schlagen. Ich meine das was ich gestern gesagt habe wirklich ernst. Du hast von uns nichts zu befürchten."
„Du hast gesagt – vorerst", widersprach sie ihm sehr leise.
Er sah wieder geradeaus.
„Ich weiß. Das habe ich gesagt, weil ich in diesen Mauern nicht mit absoluter Sicherheit garantieren kann, dass dir nichts mehr zustößt. Solange es in meiner Macht steht, wird dir allerdings nichts passieren."
Er sah sie wieder an.
„Das war kein versteckter Hinweise auf jemanden, dem ich dich versprochen habe. So etwas würde ich niemals tun."
Ophelia entschied sich dazu, ihm zu glauben und eine Welle der Erleichterung überrollte sie. Ihre Hände begannen wieder zu zittern und sie hatte Mühe die Fassung nicht zu verlieren. Eine Träne rollte ihre Wange hinab. Sie versuchte sie hastig weg zu wischen, um sie vor Michael zu verbergen, doch natürlich hatte er sie gesehen.
Er streckte eine Hand nach ihr aus und legte sie auf ihre Schulter.
Ophelia hatte seine Bewegung nicht gesehen, weil sie gerade damit beschäftigt war, die nächste Träne wegzuwischen.
Als sie die Berührung auf ihrer Schulter spürte, wurden schlagartig Erinnerungen an die erste und zweite Öffnung der Zellentüren in ihr wach. Sie fuhr zurück und versuchte der Berührung zu entkommen. Ihr Atem ging stoßweise und sie starrte Michael voller Angst an. Dieser war bei ihrer heftigen Reaktion ebenfalls zurückgezuckt und hatte beide Hände gehoben, wie um ihr zu zeigen, dass er keine bösen Absichten gehabt hatte. Diesmal war sie sich sicher, dass sie Schmerz in seinen Augen sah.
Als sie sich sicher war, dass sie von ihm tatsächlich keine Gefahr zu befürchten hatte und sie realisierte, wie dumm und grundlos ihre heftige Reaktion gerade gewesen war, versuchte sie ihre Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen und sich zu beruhigen.
„Tut mir leid", flüsterte sie.
„Schon gut", antwortete Michael, während er seinen Männern, die Ophelias heftige Bewegung bemerkt hatten und nun hersahen, bedeutete, dass nichts vorgefallen war und sie sich wieder ihren Gesprächen widmen konnten.
Sie setzte sich vorsichtig wieder ins Gras. Dann legte sie ihre Hände über ihr Gesicht und wartete einfach ab. Was musste er nur von ihr denken. Jetzt, da sie davon ausging, dass er ihr wirklich nichts antun wollte, war es ihr unheimlich peinlich, dass sie ihn gerade so weggestoßen hatte. Doch ihr Körper hatte einfach überreagiert.
Michael ließ ihr eine Minute Zeit, bevor er weiter sprach.
„Du hast es bestimmt bemerkt. Ich habe dich von Anfang an hier im Auge behalten. Damit hatte ich keine bösen Absichten, sondern wollte nur sicherstellen, dass ich im Notfall eingreifen könnte, wenn du in Gefahr geraten wärst."
Er schwieg kurz. Ophelia fragte sich zwar, warum er ihr das jetzt sagte, aber wahrscheinlich wollte er sich ihr einfach erklären, damit ihr Vertrauen in ihn weiter wachsen konnte.
„Leider konnte ich die beiden ersten Angriffe nicht abwehren. Beim ersten Mal wusste ich noch gar nichts von dir. Ich habe leider erst zu spät herausgefunden, wer du warst und dass du hier eingesperrt worden bist. Ich hätte niemals damit gerechnet, dass die Gefängnisleitung tatsächlich ein Mädchen hier einsperren würde."
Er rieb die Hände aneinander, um sie zu wärmen.
„Beim zweiten Angriff am nächsten Morgen waren meine Männer und ich nicht schnell genug und Joe hatte bereits deine Zelle besetzt. Als ich von seinem Plan erfahren habe, dass er dich für Blake vorgesehen hat, wusste ich, dass du vorerst außer Gefahr warst. Allerdings musste ich dafür vorbereitet sein, wenn Blake auftauchen würde. Das hat einige Zeit in Anspruch genommen. Genau genommen bis zu dem Tag, an dem Blake dann schließlich zurückkam."
Er sah auf seine Hände und steckte sie dann in die Jackentaschen.
„Wie hast du es geschafft, ihn davon abzuhalten, mich zu..."
Sie konnte den Satz nicht beenden. Michael schwieg einige Sekunden. Dann sah er sie direkt an.
„Sagen wir fürs erste einfach, dass ich über Mittel und Wege verfüge, einige Menschen hier zu überzeugen."
Ophelia ahnte, dass er nicht mehr zu diesem Thema sagen würde, also beschloss sie, nicht weiter danach zu fragen.
Zudem wurde das Gespräch sowieso an dieser Stelle beendet, da der Hofgang beendet wurde und alle wieder zurück in ihre Zellen gebracht wurden.
Als die Zellentür wieder verschlossen war, konnte sich Ophelia das erste Mal seit ihrer Ankunft hier wirklich entspannen. Das hatte zur Folge, dass sie fast augenblicklich und trotz des hellen Tageslichts in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.

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