"Erschütterung des Vertrauens Teil 1"

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Als sie am nächsten Morgen aufwachte, fühlten sich die Erinnerungen an den vergangenen Tag bleischwer an. Zu erfahren, dass sie all die schlimmen Erfahrungen der letzten Zeit niemals hätte erleben müssen, wenn entweder Lincoln nicht gewesen wäre oder Michael das Wohl seines Bruders nicht über das ihre gestellt hätte, machte ihr sehr zu schaffen.
Sie wusste noch nicht einmal weshalb Lincoln überhaupt das Todesurteil bekommen hatte. Was wenn er ein Schwerverbrecher war und den Tod tatsächlich verdient hatte. Warum musste sie, die sich keiner Schuld bewusst war, dafür gerade stehen?
Irgendwie fühlte sie sich von Michael verraten. Allerdings musste sie auch fair bleiben. Er hatte es immerhin geschafft, sie bisher soweit zu beschützen, dass sie nichts Schlimmeres als ein paar Blessuren davon getragen hatte.
Der Gedanke an ihre Wunden brachte sie dazu aufzustehen. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass die Platzwunde an ihrer Stirn schon viel besser aussah. Sie würde nun keinen Verband mehr brauchen. Immerhin. Und auch die blauen Flecken, die sie von Jakes Angriff zurückbehalten hatte, waren kaum noch zu sehen.
Sie wusch sich das Gesicht und erledigte ihre Morgenroutine innerhalb weniger Minuten.
Ihrem Zeitgefühl nach würde sich ihre Zellentür bald öffnen.

Wie sollte sie sich Michael gegenüber verhalten, wenn sie ihm gleich begegnen würde? Sollte sie wütend sein? Oder eher dankbar, weil er ihr schon so oft geholfen hatte?
Noch bevor sie sich entschieden hatte, hörte sie das Geräusch ihrer Zellentür.
Doch Michael war nicht der erste, der sie heute morgen begrüßte. Stattdessen stand plötzlich ein großer, breitschultriger Mann mit langen Haaren in ihrer Zellentür. Ophelia hatte ihn zwar schon ein paar Mal gesehen, doch bisher hatte sie noch kein Wort mit ihm gewechselt. Sie zuckte zusammen und wich einige Schritte in ihrer Zelle zurück. In letzter Zeit hatte eine solche Begegnung ihr immer nur Schaden gebracht.
Ein schneller Blick hinter den Mann zeigte ihr, dass die Männer draußen noch immer dieselben waren. Gehörte dieser Mann hier seit neuestem auch zu Blakes Anhängern?
„Guten Morgen. Du bist also Ophelia. Mein Name ist John Abruzzi und ich werde dich nun anstelle von Blake bewachen."
Nun verstand Ophelia überhaupt nichts mehr.
„Was ist mit Blake?"
„Blake und ich hatten gestern eine Meinungsverschiedenheit und ich habe dafür gesorgt, dass er sich mir gefügt hat. Du wirst ihn hier nicht mehr sehen, weil er seine Zukunft erst in einem Krankenhaus und dann in einem anderen Gefängnis verbringen wird."
Ophelia schwieg und konnte nur leidlich verhindern sich auszumalen, was Abruzzi Blake angetan haben könnte. Doch zum Glück wurde sie dabei unterbrochen, weil Abruzzi auch schon weiter sprach.
„Ich nehme an, dass du meine Methode nicht gerade gut heißen würdest, aber nachdem ich mitbekommen hatte, welche interessante Abmachung Blake mit Michael hatte, konnte ich einfach nicht widerstehen. Ich musste ihn einfach aus dem Weg räumen, um Michael zu zwingen, mich in sein Team aufzunehmen. So eine Chance bekommt man nicht zwei Mal in diesen Mauern."
Ophelia blieb ganz still, doch umso aufmerksamer. Abruzzi schien nicht zu wissen, dass sie nur bisher nur vermutet hatte, dass Michael etwas vorhatte. Nun war sie davon restlos überzeugt. Wenn sie Abruzzi nun einfach weitersprechen ließ, würde er ihr womöglich den ganzen Plan verraten.
„Bisher hat es ja noch niemand geschafft, aber wer weiß, dieser Michael scheint ja einiges..."
„Abruzzi!"
Der Angesprochen drehte sich ruckartig um, als er die drohende Stimme hörte. Michael stand hinter ihm und starrte ihn drohend an.
„Ah, Frischling. Ich erzähle Ophelia gerade von dem Wechsel in der Chefetage. Außerdem wollte ich gerade dein Talent zum Pläneschmieden loben..."
Michaels Blick wurde noch drohender und Abruzzi merkte nun endlich, dass er gerade mehr verraten hatte, als er sollte.
„Keine Sorge, Frischling. Ich habe ihr nicht erzählt, worum es bei deinem Plan geht", wehrte er ab und sah ein paar Mal zwischen Michael und Ophelia hin und her. Dann nickte er nur, drehte sich um und verließ die Zelle.
Nach einem letzten finsteren Blick in Abruzzis Richtung, bedachte Michael Ophelia mit einem forschenden Blick. Wahrscheinlich versuchte herauszufinden, in welcher Stimmung sie sich nach ihrem gestrigen Gespräch befand.
Sie begrüßte ihn nicht und sah ihn nur schweigend an.
„Lass uns Frühstücken gehen," meinte Michael nach einigen Sekunden. Er schien genauso wenig darüber reden zu wollen wie Ophelia. Sie folgte ihm schweigend.

Während des Frühstücks sprach Michael sie kein einziges Mal an und auch Ophelia begann kein Gespräch. Fernando bemerkte zwar, dass etwas in der Luft lag, doch er mischte sich nicht ein.
Erst beim morgendlichen Gang auf den Hof hatte Ophelia sich entschieden, wie sie sich verhalten wollte und ging zu Michael, der ein wenig abseits im Gras saß. Sie setzte sich neben ihn und ließ einige Minuten der Stille verstreichen um ihre Gedanken zu sammeln. Michael ließ ihr Zeit und wartete, bis sie zu sprechen begann.
„Was hat Lincoln getan?"
Michael fuhr mit der Hand durch das Gras und begann einzelne Halme auszureißen.
„Ihm wird vorgeworfen, dass er den Bruder der Vizepräsidentin ermordet haben soll."
Ophelia schluckte. Also ein Mörder. Sie kannte zwar weder die Vizepräsidentin noch ihren Bruder, doch das war im Moment eher nebensächlich.
„Und, hat er es getan?"
„Ich selbst glaube nicht daran und Veronica ist auch nicht von seiner Schuld überzeugt."
„Wie sicher bist du dir?"
Michael wandte sich ihr zu. In seinem Blick lag Entschlossenheit.
„Ich weiß nicht mit absoluter Sicherheit, dass er unschuldig ist, aber ich vertraue ihm. Schon alleine die Tatsache, zu welch drastischen Mitteln seine Gegner in deinem Fall gegriffen haben, um Veronicas Ermittlungen zu verhindern, überzeugt mich davon."
„Glaubst du, dass das auch der Grund ist, weshalb Pope nichts an meiner Situation ändern konnte?"
Michael nickte.
„Ich nehme an, dass die Männer, die hinter Lincolns Urteil und deiner Entführung stecken, in einer höheren Liga spielen als Pope."
Ophelia schwieg einige Sekunden lang. Dann holte sie tief Luft und sprach die Worte aus, die sie sich zurecht gelegt hatte.
„Michael, ich kann verstehen, weshalb du nicht auf die Forderungen dieser Männer eingegangen bist, obwohl das auf mich zurückfällt. Und ich bin auch bereit, die Situation so wie sie ist mitzutragen."
Michael hob langsam den Kopf.
„Ich will damit nur sagen, dass ich dir vertraue und glaube, dass du mich zumindest vor den schlimmsten Gefahren beschützen wirst und kannst."
Michael sah ihr direkt in die Augen und antwortete mit ernster Stimme.
„Ich werde dich nicht enttäuschen. Es tut mir wirklich leid, dass ich dich in die Sache mit hinein gezogen habe. Du kannst dir sicher sein, dass es mir dein Schicksal nicht egal ist und ich alles nötige dafür tun werde, dass dir so wenig wie möglich geschieht."
Ophelia erwiderte seinen Blick und fand darin mindestens ebenso viel Entschlossenheit wie vorhin, als Michael von seinem Bruder gesprochen hatte. Das bestätigte ihr, dass ihr Vertrauen in ihn mehr als gerechtfertigt war.
Wieder schwiegen sie eine Weile, bis Ophelia weiterfragte.
„Was ist mit Blake passiert? Wer ist dieser Abruzzi und was für eine Abmachung hast du mit ihm?"
Michaels Gesichtsausdruck wurde augenblicklich verschlossener, doch diesmal ließ Ophelia nicht locker.
„Ich habe schon damals bei Blake mitbekommen, dass du mit ihm geredet hast und ihn irgendwie zur Kooperation in meinem Fall gezwungen hast. Was hast du ihm angeboten?"
Michael schwieg noch immer.
„Und auch Lincoln hat etwas in die Richtung gesagt. Michael, ich weiß, dass du irgendetwas..."
„Ich kann es dir im Moment noch nicht sagen, Ophelia", unterbrach er sie.
„Zu deinem eigenen Schutz ist es wirklich besser, dass du so wenig wie möglich weißt. Bitte vertraue mir auch in dieser Sache. Ich werde dir zum richtigen Zeitpunkt alles nötige erklären."
Ophelia biss sich auf die Lippen und überlegte, ob sie weiter nachbohren sollte, oder einfach nachgeben sollte.
„Bitte vertaue mir", Michael legte seine Hand sachte auf ihre Schulter.
Ophelia kämpfte noch ein paar Sekunden mit sich, bis sie sich endlich zu einer Entscheidung durch rang.
„Na gut. Ich werde nicht weiter nachfragen", antwortete sie.
„Danke. Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen. Ich verspreche dir, dass ich du alles so früh wie möglich erfahren wirst."
Er sah wieder geradeaus.
„Was Abruzzi angeht kann ich dir nur sagen, dass er mittlerweile ein Verbündeter ist. Er hat Blake zwar auf brutale Weise aus dem Spiel gezogen, doch ich brauchte seine Hilfe sowieso, weshalb ich darüber hinweg sehen musste. Für dich ändert sich zunächst nichts, außer, dass Blakes Männer jetzt zu Abruzzi gehören und er jetzt immer für deine Sicherheit sorgen wird, bevor Fernando und wir anderen zu deiner Zelle kommen."
Ophelia nickte nur. Sie war zwar nicht froh darüber, dass Blake solch ein Schicksal erlitten hatte, doch andererseits war sie froh, keine Angst mehr vor ihm haben zu müssen. Allerdings traute sie auch Abruzzi nicht über den Weg. Doch dieser hatte sie bisher zumindest noch nicht bedroht.
In diesem Moment wurde der Hofgang beendet und sie mussten an die morgendliche Arbeit gehen.

Als sie zum Mittagessen abgeholt wurde, war Michael nicht bei seinen Männern. Stattdessen eskortierte Fernando sie in den Essensraum. Auf ihre Frage hin erzählte dieser ihr, dass Michael vom Gefängnisdirektor persönlich darüber informiert worden war, dass er am nächsten Tag in ein anderes Gefängnis verlegt werden würde. Ophelia lief es bei diesen Worten eiskalt den Rücken hinunter. Wenn Michael sie nicht mehr beschützen würde, wer dann?

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