Dr. Tancredi hatte sie die ganze Zeit über sehr genau betrachtet. Doch sie wirkte auf ihn absolut nicht wie eine Lügnerin. Falls doch, musste sie eine sehr professionelle Lügnerin sein, um ihn derart täuschen zu können. Er überlegte, wie viel er ihr über Michael erzählen sollte.
Aber vielleicht könnte es ihr tatsächlich irgendwann nutzen, dass sie etwas über ihn wusste. Er erinnerte sich, dass Michaels Akte ebenso, wenn auch in anderer Weise, merkwürdig gewesen war, wie die ihre.Er berichtete ihr von Michaels erfolglosem Überfall auf die Bank. Zudem erzählte er ihr von Lincoln, Michaels Bruder, der ebenfalls hier im Gefängnis war.
„Lincoln Burrows?", fragte Ophelia.
„Ich habe noch von keinem Mann mit diesem Namen gehört."
„Er sitzt in Einzelhaft und soll innerhalb der nächsten Wochen exekutiert werden."
Ophelia erstarrte und hielt die Luft an. Mit einer solchen Information hatte sie nicht gerechnet. Sie ging in Gedanken alle Begegnungen mit Michael durch. Nein, er hatte ihr keinerlei Hinweise auf seinen Bruder oder dessen anstehende Exekution gegeben. Sie war noch damit beschäftigt, diese Information zu verarbeiten, als Dr. Tancredi ihr noch etwas anderes mitteilte, was ihre Aufmerksamkeit fesselte.
„Michael Scofield ist, seinen psychologischen Berichten zufolge, ein mehr als überdurchschnittlich intelligenter Mensch und zudem äußerst empathisch. Da er Diabetes hat, ist er sehr häufig in dieser Praxis. Ich weiß nicht, ob ich mich täusche, aber während seiner Besuche habe ich den Eindruck gewonnen, dass er aufgrund seines hohen Grades an Empathie sehr darunter leidet, wenn er andere Menschen leiden sieht."
Ophelia hatte sehr aufmerksam zugehört. Gerade dieser letzte Satz ließ gleich eine ganze Reihe von Groschen bei ihr fallen. Wenn Michael derart empathisch war, wunderte es sie nicht mehr, dass er ihr so viel geholfen und dafür auch keine Mühen gescheut hatte. Auch darüber würde sie noch weiter nachdenken müssen.
„Soviel zu Michael Scofield. Mehr möchte ich dir im Moment nicht über ihn erzählen. Ich habe meine Kompetenzen sowieso schon viel zu weit überschritten. Nun leg dich bitte mit dem Rücken auf die Liege. Ich werde nun deine Wunde nähen."
Ophelia war kurz irritiert über den schnellen Themenwechsel, doch dann gehorchte sie und legte sich auf die Liege.
Dr. Tancredi nahm den provisorischen Verband ab und betastete die Wundränder.
„Spürst du das?", fragte er.
Ophelia schüttelte den Kopf. Die betäubende Salbe hatte ihre Wirkung getan.
„Dann werde ich nun mit dem Nähen beginnen. Solltest du Schmerzen haben, melde dich sofort."
Ophelia beobachtete die Handbewegungen des Arztes aus den Augenwinkeln. Er schien sehr sicher zu sein in dem was er tat. Zumindest zitterte und zögerte er nicht ein einziges Mal. Auch wenn sie die Geräusche hören konnte, die das Nähen verursachte, konnte sie es trotzdem nicht spüren. Die ganze Prozedur nahm weit weniger Zeit in Anspruch, als Ophelia erwartet hatte. Offensichtlich gehörte eine solche Operation zu den Routineaufgaben des Arztes.
Als er fertig war, wies er Ophelia an, sich wieder aufzusetzen. Sie schwankte ein wenig, doch bald kam ihr Kreislauf wieder in Schwung.
„Für die Druckstellen an deinem Mund und die an den Händen gebe ich dir diese kleine Salbe mit, die du morgens und abends auftragen kannst. Damit sollten sie innerhalb der nächsten drei Tage verschwunden sein."
Ophelia nickte und verstaute die Tube in ihrer Hosentasche.
Dr. Tancredi zog sich die Einweghandschuhe aus und wusch sich die Hände. Dann schob er seinen Schreibtischstuhl vor die Liege und setzte sich direkt vor Ophelia auf den Stuhl. Er beugte er sich ein wenig vor und sah ihr direkt in die Augen.
„Was ich jetzt tun werde überschreitet meine Kompetenzen noch um ein weit höheres Maß, als ich das eigentlich verantworten kann. Wenn das herauskommt, finde ich mich wahrscheinlich selbst in einem Gefängnis wieder."
Ophelia war irritiert. Was hatte er vor?
„In gewisser Weise lege ich hiermit mein Leben in deine Hände. Sei dir dessen bewusst und wende das hier nur im äußersten Notfall an."
Er öffnete unauffällig seine Handinnenfläche um Ophelia die blitzende Klinge eines Skalpells zu zeigen, welches er dort mit dem Daumen festhielt. Die Wächter würden es von außen nicht sehen können.
„Ich werde dir gleich die Hand geben und möchte, dass du es in deine Tasche steckst, während du aufstehst und aus dem Raum gehst."
Ophelia wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Doch Dr. Tancredi sprach auch schon weiter.
„Die Rasierklinge würde dir nur bedingt helfen. Das Skalpell ist viel stabiler. Aber wenn es jemals bei dir oder jemand anderem gefunden werden würde, lässt sich die Herkunft wohl recht schnell nachweisen."
Ophelia schluckte.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich..."
„Ophelia, ich sehe im Moment keine andere Möglichkeit, wie ich dir anders helfen könnte. Ich kann nicht verhindern, dass du erneut angegriffen wirst. Aber das möchte ich nach Möglichkeit vermeiden. Ich denke, für den Moment ist es sicher und sinnvoll, wenn du dich an Michael hältst. Wenn das, was ich über ihn weiß, zutrifft, ist er wohl derjenige, der dir den besten Schutz bieten kann."
Ophelia nickte und schwieg.
Der Arzt streckte ihr nun die Hand hin und sie ergriff sie zögernd. Es gelang ihr, das Skalpell entgegen zu nehmen, ohne dass es von außen hätte bemerkt werden können.
Dann stand sie auf und verstaute es unbemerkt in ihrer Tasche.
Sie ging zur Tür. Und wieder hatte sie das Gefühl, dass sie gerne noch viel länger in diesem Raum bleiben wollte, da er ihr Sicherheit und ein Stück Normalität versprach. Doch sie war sowieso schon recht lange hier gewesen. Sicher warteten auch noch andere Patienten darauf, von dem Arzt behandelt zu werden.
Dr. Tancredi war hinter ihr her gegangen und öffnete ihr nun die Tür.
„Pass auf dich auf! Und bitte verzeihe, dass ich dich vorhin so fest gepackt habe", sagte er, während er ihr die Hand auf die Schulter legte und dann an ihrem Arm hinunter gleiten ließ. Diese Berührung war so sanft und fürsorglich, dass Ophelia unwillkürlich zu ihm zurück sah. Ihre Blicke trafen sich und Ophelia fühlte sich augenblicklich an ihren letzten Besuch erinnert. Auch damals war sein letzter Blick voller Mitleid, Sorge und noch etwas anderem gewesen.
Doch ihr blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn der Wächter kam mit den Handschellen auf sie zu.
Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss.Hoffe euch geht es gut <3
Hier sind wieder 2 neue Kapitel
Lasst mich wissen wie ihr es findet❤️
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Worth of Freedom
AdventureOphelia erwacht in Fox River, doch sie ist sich keines Verbrechens bewusst. Der ganze Schrecken des Gefängnisalltags bricht über sie herein. Wie soll sie sich nur gegen die Übergriffe der anderen Häftlinge zur Wehr setzen? Und wer ist dieser Mann...