Die rote Tür

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Für Tessa waren noch lange nicht alle Fragen beantwortet. Sie musste aufklären, was ihren Onkel in jener Nacht so erschreckt hatte, dass er danach nie wieder imstande war, das Anwesen zu verlassen und den Rest seines Lebens damit verbrachte, diese verdammte Tür zu bewachen. Sie entschloss sich, erneut Mr Carrywinter darauf anzusprechen. In dieser Nacht würde sie nicht mehr locker lassen, bevor sie nicht alles wusste, was sie wissen wollte. "Mr Carrywinter, sie kennen mich jetzt mein halbes Leben lang... Der Brief meines Onkels Super... die Geschichte mit dem Geist seiner Mutter... äußerst interessant. Sie wissen jedoch ganz genau, dass das alles mich nicht zufriedenstellt. Es ist ein Artefakt aus Griechenland hinter dieser Tür, anscheinend zusammen mit mehreren anderen, geschichtlich vielleicht bedeutsamen Dingen. Sie wissen genau, dass Sie mir den Schlüssel geben müssen. Ich schätzte meinen Onkel als Mensch sehr und ich weiß es zu schätzen, dass er mich beschützen wollte. Doch wie kann ich vor etwas sicher sein, das sich in meinem eigenen Haus befindet und von dem ich nicht weiß, was es ist. Vielleicht ist es höchst giftig und kann mich umbringen oder sonstiges in dieser Art. Wir haben jetzt genau zwei Möglichkeiten: Entweder, Sie geben mir jetzt endlich diesen Schlüssel, oder ich besorge mir eine Axt und werde diese Tür zu Kleinholz verarbeiten!"

"Miss Tessa, nicht nur ich weiß, wie neugierig Sie sind und dass diese vagen Aussagen in diesem Brief Sie niemals zufriedenstellen würden. Auch Ihr Onkel war sich dessen bewusst. Er hoffte allerdings inständig darauf, dass Sie nun so erwachsen geworden wären, das es ihren Sinn für Abenteuer und Ihre Neugier vielleicht getrübt hätte und Sie es vielleicht doch dabei belassen würden. Aber es scheint mir, als würde dies in Ihrer Familie liegen. Es ist wohl Ihr Schicksal. Er hat mich angewiesen, sollten Sie sich durch diesen Brief nicht davon abhalten lassen nachzuforschen, Ihnen die Tür zu öffnen. Allerdings hat er auch dafür eine Nachricht hinterlegt", sagte Mr Carrywinter und händigte ihr einen weiteren Brief aus:

Meine liebste Tessa,

wenn du diesen Brief hier erhältst, beweist dies nur, dass du wirklich ein Teil unserer Blutlinie bist. Unser Stammbaum ist voll von Abenteurern und niemals hat sich einer von uns aufgrund von Gefahren davon abhalten lassen, ein Abenteuer zu erleben. Es ist jedoch insofern besonders, als dass du die erste Frau in unserer Linie bist, die einen derartig ausgeprägten Sinn für solche hat. Deine Mutter, sie war wirklich ein mutiges Kind und eine bemerkenswerte Frau, jedoch keine Abenteurerin.Sie hatte nichts dafür übrig und wollte lieber ein normales und "sicheres" Leben leben. Hinter dieser Tür wirst du eine Menge Dinge finden, manche eher unbedeutend, manche äußerst bedeutend für die Forschung. Doch das Artefakt, welches mich dazu brachte diesen Raum Zeit meines Lebens zu verschließen, ist weder noch. Es wäre vermutlich äußerst spannend für viele Forscher, es untersuchen zu dürfen. Sie sind jedoch zu rational. Sie glauben nichts, was sie nicht beweisen oder sehen können. Deshalb muss ich dich um etwas bitten, bevor man dir diesen Raum öffnen wird. Und glaube mir, es ist stets zu deinem Besten: 1. Verspreche, es niemals der Forschung zugänglich zu machen. Niemand darf wissen, dass es in deinem Besitz ist. 2. Versuche nicht, es zu verkaufen oder zu zerstören. 3. Mach mit dem Rest der Artefakte und Exponate was du möchtest, aber belasse dieses Artefakt in diesem Raum. 4. Öffne das Artefakt niemals! 5. Halte den Raum danach stets verschlossen und öffne ihn niemals wieder.

Das alles scheint dir sicherlich sehr drastisch und das kann ich sehr gut nachvollziehen, doch es ist unabdingbar, dass du dich daran hältst oder du und viele andere werden großes Unheil erfahren. Ich bitte dich, meinen Anweisungen Folge zu leisten.

Ich habe dich geliebt wie meine eigene Tochter und das werde ich immer tun.

In Liebe,

Dein Onkel Archibald

"In Ordnung Mr Carrywinter, ich habe die Anweisungen gelesen und werde sie befolgen. Bitte öffnen Sie mir nun die Tür. Und Nate, bitte warte draußen vor der Tür. Ich werde dich dazuholen, wenn ich mich umgesehen habe", sagte Tessa sehr bestimmend und ruhig.

Nathan verstand nicht, weshalb Tessa unbedingt allein gehen wollte. Was hatte wohl in dem Brief gestanden? Aber er wusste, Diskutieren hatte keinen Zweck.

Mr Carrywinter steckte den großen, schweren Schlüssel ins Schloss und die Tür öffnete sich beschwerlich. Als Tessa den Raum betrat, kam ihr zuerst eine große Staubwolke entgegen und Mondlicht schien durch ein kleines, halb durch Bretter versperrtes Fenster. Glücklicherweise war dieser Raum einer der Räume, die bereits mit elektrischem Strom ausgestattet waren. Sie betätigte den Schalter und erhellte den Raum. Zumindest etwas, sehr viel Licht gaben die Lampen leider nicht ab. Sie nahm den Kronleuchter deshalb trotzdem mit hinein und bat Mr Carrywinter, zunächst im Türrahmen zu warten, für den Fall, dass sie Hilfe brauchte.

Sie bewegte sich langsam, Schritt für Schritt, durch den Raum, immer auf den Schreibtisch zu. Was auch immer es war das ihn so erschreckt hatte, es musste dort liegen. Er hatte immerhin fluchtartig den Raum verlassen. Der Schreibtisch war erstaunlich aufgeräumt, bedenkt man, dass er sein Arbeitsplatz gewesen war. Das Einzige, was sie auf dem Tisch vorfand, war eine Schmuckschatulle. Sie war komplett aus Silber und reichlich verziert. Sie musste tausende Jahre alt sein, doch sie sah aus, als hätte man sie gerade erst anfertigen lassen. Tessa nahm die Schatulle in die Hand, sie war verschlossen. Sie drehte sie um, doch sie fand keinen Hinweis, was es mit der Schatulle auf sich hatte. Sie rief Mr Carrywinter zu sich, vielleicht wusste er ja um was es sich hierbei handelte. Immerhin war er der engste Vertraute ihres Onkels gewesen und hatte bestimmt auch ab und zu mit ihm über seine Arbeit gesprochen. Er betrat das Zimmer zunächst zögerlich, als er vor dem Schreibtisch stand, erstarrte er plötzlich. Mit weit aufgerissenen Augen sah er auf die Schatulle hinab. "Das... das ist doch nicht möglich! Das ist doch nur ein Mythos!", schrie er. "Aber Mr Carrywinter, was ist denn los? Was hat es mit dieser Schatulle auf sich? Ich habe nie zuvor etwas Derartiges gesehen. Mein Onkel sprach doch von einem Artefakt und alles hier drin ist sehr verstaubt, doch diese Schatulle nicht. Sie sieht aus, als hätte man sie gerade beim Schmied abgeholt. Wie ist das möglich?", entgegnete Tessa.

"Aber mein liebes Kind, haben Sie denn noch nie von der Büchse der Pandora gehört?" "Die Büchse der was?" Tessa schaute ihn verwirrt an. Es fühlte sich für sie an wie ein schlechter Scherz.

"Wenn ich richtig liege und, anhand des Aussehens dieser Schatulle und der Tatsache, dass sie nach wie vor unversehrt ist, bin ich mir da sicher, handelt es sich hierbei um die Büchse der Pandora. Ihr Onkel hat mehrere Reisen nach Griechenland unternommen, um sie zu finden. Jedoch gab es keinerlei Grundlage, um anzunehmen, dass sie wirklich existiert hatte. Einer griechischen Sage zufolge ließ Zeus seinen Sohn Hephaistos, den Gott der Schmiedekunst, eine Frau aus Lehm erschaffen: Pandora. Er wies Pandora an, den Menschen eine Büchse zu schenken. Diese Büchse enthielt alles Übel, das der Menschheit jemals widerfahren konnte und es würde über sie kommen, wenn die Büchse geöffnet werden würde. Allerdings war Ihr Onkel davon besessen, dass diese Büchse tatsächlich existiert und setzte alles daran, sie zu finden. Und wie wir hier sehen, wurde er anscheinend fündig", erklärte Mr Carrywinter.

Tessa war sprachlos. Das Übel der Welt war in ihren Händen? Hier auf Hell Castle? Wie konnte das sein? Wie war ihr Onkel an diese Schatulle gekommen und wie hatte er es geschafft, sie unbemerkt hierher zu bringen? Das alles waren Fragen, die nur ihr Onkel hätte beantworten können und die deshalb auf ewig unbeantwortet bleiben würden.

Die rote TürWo Geschichten leben. Entdecke jetzt