• ELF •

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Auden hat mehrere Male versucht, mit mir zu reden – erfolglos, da ich sein Klopfen einfach ignoriert habe. Meistens blieb er dann noch eine Weile vor meiner Tür und hat in schier endlosen Monologen wahllos verschiedene Poeten und Schriftsteller zitiert (letztens musste Tolstoi dran glauben).

Mittlerweile bin ich mir sicher, dass er zumindest ein bisschen verrückt sein muss.

In den Nächten schallte zudem in fulminanter Lautstärke ein Gitarrenriff nach dem anderen zu mir herunter... vorzugsweise das schrill klingende von ›Sweet Child O' Mine‹. Zugegebenermaßen wäre sein Plan, mich aus der Reserve zu locken, damit beinahe aufgegangen.

Eines muss ich Auden mit Widerwillen anerkennen: Er ist äußerst hartnäckig. Zumindest war er das bis vor vier Tagen. Doch die Erleichterung darüber bleibt komischerweise aus. Viel mehr beginne ich langsam mich zu fragen, ob er tatsächlich aufgegeben hat. Und die Vorstellung macht mich nicht unbedingt glücklich. Und diese Tatsache wiederum, macht mich gleich noch unglücklicher.

Habe ich es insgeheim vielleicht sogar genossen, dass er sich so um mich bemüht hat? Ja, gut möglich. Bin ich bereit dazu, mit ihm zu reden? Nein, definitiv nicht.

Ein nagendes Gefühl in meinem Inneren begrüßt mich seit diesem verhängnisvollen Abend jeden Morgen und gibt mir vor dem Einschlafen einen Gute-Nacht-Kuss. Doch was diese unangenehme Empfindung hervorruft, weiß ich nicht wirklich. Ist es Erics Anruf? Die Sache mit Auden? Vermutlich beides, irgendwie.

Diese Unruhe in mir habe ich versucht in Arbeit zu ertränken, da der Alkohol mir auf die Dauer nur Kopfschmerzen und einen wirklich ekligen Geschmack im Mund hinterlassen hat. Eine Auftraggeberin von mir ist besonders anspruchsvoll was die Gestaltung ihrer Visitenkarten angeht. Jeden meiner Vorschläge schießt sie in den Wind mit der Begründung, dass das gewisse Etwas fehlen würde. Normalerweise hätte sie mich damit in den Wahnsinn getrieben, doch momentan kommt mir diese Ablenkung nur zu gelegen.

So bin ich also knietief in meiner Arbeit versunken und gebe mir selbst dadurch kaum Zeit, an diesen üblen (wirklich üblen) Abend zu denken.

Womit ich am heutigen Nachmittag allerdings nicht gerechnet habe: meinem Körper, der mir einen fetten Strich durch die Rechnung macht und sich quasi ohne Vorwarnung ins Land der Träume verabschiedet.

•••

Ich erwache vom schrillen Klingeln an der Tür.

Mit brennenden Augen blinzele ich, um meine Sicht zu klären. Ein Blick aus dem Fenster zeigt mir, dass es mittlerweile beginnt zu dämmern. Als ich mich von meinen angeblich rückenfreundlichen Stuhl erhebe, entfährt mir ein schmerzvolles Stöhnen.

Wie ich es hasse, am Schreibtisch einzuschlafen.

Auf dem Weg zur Tür erhasche ich einen Blick auf mein Spiegelbild im Flur. Zwar befinden sich keine Tastaturabdrücke auf meiner Wange, doch der Rest sieht schlimm genug aus.

Da ich ein Paket erwarte und nicht glaube, Gefahr zu laufen, dass Auden an der Tür steht, spare ich mir den Blick durch den Türspion und mache ohne Umschweife auf.

Mental bin ich darauf vorberietet, einen Stift zum Unterschreiben entgegenzunehmen und dem Paketboten noch einen schönen Abend zu wüschen. Doch darauf, nun doch Auden Rivers gegenüberzustehen, bin ich sowas von NICHT vorbereitet!

Ohne groß darüber nachzudenken, knalle ich ihm die Tür vor der Nase zu – oder zumindest versuche ich es. Denn Auden scheint genau damit bereits gerechnet zu haben. Blitzschnell stellt er seinen Fuß in den Türrahmen... und jault anschließend vor Schmerz auf.

»Verdammt, Callah! Wie viel Kraft hast du eigentlich?« Er klingt zwar genervt, aber auch Wiederwillen beeindruckt.

Abwehrend verschränke ich die Arme und murmle: »Kannst du bitte einfach gehen? Ich fühle mich sowieso schon genug erniedrigt, mach es nicht noch schlimmer.«

Um ihm nicht ins Gesicht schauen zu müssen, lasse ich meine Augen auf seinem Adamsapfel liegen. Da ich schnell merke, dass das auch nicht viel besser ist, lasse ich meinen Blick über seine Klamotten wandern.

Einige Sekunden später weiß ich schließlich, was er trägt (schwarzes T-Shirt von irgendeiner Band, verwaschene schwarze Jeans), fühle meine heißen Wangen allerdings noch immer nicht kälter werden.

Auden spricht weder, noch bewegt er sich von der Stelle. Mittlerweile starre ich die Spitzen seiner klassischen Vans an und beschwöre sie dazu, den Mann, der in ihnen steckt, schnurstracks von hier wegzuführen. Natürlich geschieht nichts in der Richtung.

»Darf ich reinkommen?«, fragt er jetzt. Diese Frage erscheint mir im Angesicht der Umstände so dreist, dass mein Kopf automatisch zu ihm nach oben schnellt. Ich will schon ›Kannst du sowas von vergessen!‹ rufen, stocke jedoch. Der Blick in seinen dunkelbraunen Augen ist nicht wie erwartet peinlich berührt oder gar bemitleidend. Nein, viel eher wirkt er fest entschlossen.

Dieser Umstand irritiert mich so sehr, dass ich mich nicht rühre. Vielleicht ist meine Bewegungslosigkeit aber auch nur darauf zurückzuführen, dass mich sein Blick fängt, wie der Honig die Bienen.

Bevor ich weiß wie mir geschieht, ist er auch schon eingetreten und schließt die Tür hinter sich. Kurz lässt er den Kopf hängen, als wolle er sich sammeln. Dann schießen seine Augen wieder in meine, glühend heiß und voller ungesagter Worte.

Doch Letztere finden kurz darauf ihren Weg aus seinem Mund.

»Callah... zwischen uns gab es ein gewaltiges Missverständnis, an dem ich nicht ganz unschuldig bin.«

Ich verdrehe die Augen. »Was du nicht sagst.«

Er schüttelt den Kopf. »Ich hätte dir energischer klarmachen müssen, dass –«

Mit abwehrend erhobener Hand unterbreche ich ihn: »Hör doch einfach auf, okay? Ich hab's kapiert, du fängst nichts mit Nachbarinnen an. Das hast du deutlich genug gemacht, also weiß ich wirklich nicht, wie du mir das ›energischer‹ hättest mitteilen kön –«

Diesmal ist er derjenige, der mich unterbricht – doch er tut dies nicht mit Worten.

Plötzlich sind da nur noch seine Lippen, die sich drängend auf meine pressen.

Dieser Kuss ist das komplette Gegenteil von dem vor einigen Tagen. Er ist weder flüchtig, noch vorsichtig oder ängstlich. Nein, dieser Kuss ist lang, tief und entschlossen. Doch zwei Dinge haben die beiden Küsse doch gemeinsam: impulsive Leidenschaft und zum Himmel schreiende Verrücktheit.

Mit einer Inbrunst, die ich so von mir nicht kenne, erwidere ich diesen verrückten Kuss. Mit den rauen Fingerkuppen seiner linken Hand streicht er über meine Wange, die rechte Hand krallt sich in meine Taille.

Als sein harter Körper meinen weichen an die Tür drängt, poltert es laut, doch das nehme ich nur am Rande wahr. Seine Zähne, die sich in meine Unterlippe graben spüre ich jedoch nur allzu deutlich. Stöhnend schlinge ich meine Beine um seine Hüfte und klammere mich an seinen Armen fest.

Auden löst seine Lippen von meinen, streicht mit ihnen an meinem Kiefer entlang und macht schließlich bei meinem Ohr Halt. »Das ist so verdammt viel besser, als erwartet«, raunt er. Ich bin nicht einmal mehr Wachs in Audens Händen, sondern nur noch geschmolzene Eiscreme, die durch seine Finger rinnt.

Um zumindest ein wenig das Gefühl zu haben, etwas Kontrolle wiederzuerlangen, lege ich entschlossen meine Hand um seinen Kiefer und ziehe sein Gesicht vor meines. Tief schaue ich ihm in die verhangenen dunkelbraunen Augen und hauche: »Weniger reden, mehr...« Meine Stimme verliert sich.

»Mehr was?«, murmelt er süffisant.

»Mehr ›Alles‹!«, knurre ich. Mit den Worten vereine ich meinen Mund wieder mit seinem.

NachtluftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt