II. Leben bedeutet zuhören (POV: Satori Tendou)

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Die kleine Gestalt kehrt zurück, auf ihren Wangen sehe ich immer noch die feuchten Spuren der Tränen. An ihrem Gesichtsausdruck kann ich ablesen, dass etwas vorgefallen sein muss, zur Abwechslung etwas Positives. Ihr Mund öffnet sich, formt Worte, die ich nicht verstehen kann, aber sie hängt ein winziges, freudloses Lächeln an. Erleichtert stoße ich die Luft zwischen meinen Zähnen aus, die ich vor Anspannung angehalten habe.

Mittlerweile kenne ich ihren Namen, weiß, wie alt sie ist und woher sie kommt. Jede Nacht aufs Neue wenden wir uns unseren Plätzen vor dem Spiegel zu. Schreiben uns gegenseitig Zettel, um miteinander kommunizieren zu können.

Das Mädchen lässt sich auf die Seite fallen, winkelt ihre Knie eng an ihren Körper, umfasst sie mit dem einen Arm und berührt mit der anderen Hand das Glas zwischen uns. Meine Fingerspitzen legen sich auf dieselbe Stelle. In Erwartung sie zu spüren breitet sich Gänsehaut auf meinem Körper aus.

Aber da ist nichts, außer der glatten, kühlen Oberfläche, wie jedes Mal zuvor.

Manchmal beginnt sie zu reden, sie erzählt mir Dinge, die ich nicht hören kann, aber es scheint sie zu beruhigen, ihren Kummer und die Sorgen loswerden zu können.

Manchmal schreibt sie ihr Elend auch auf, Zeile für Zeile, und lässt mich daran teilhaben. Sie hat so ein grausames Leben nicht verdient.

Sie ist klein und zierlich, sehr zerbrechlich. Dunkle Haare legen sich um ihr Gesicht, aus dem grüne Augen entgegenblicken. Im Laufe der letzten Wochen und Monate ist das Grün immer mehr ermattet. Zuweilen stelle ich mir vor, wie es gestrahlt haben muss, als sie jung und sorglos war, wenn es denn jemals so eine Zeit gegeben hat.

„Sitzt du schon wieder da am Boden?"

Ich werfe einen Blick über meine Schulter und schenke meinem Mitbewohner meine Aufmerksamkeit.

„Wie jede Nacht", antworte ich meinem Freund ruhig.

„Du bist echt verrückt." Leise ächzend kehrt mir Wakatoshi den Rücken zu, um weiterzuschlafen. Dumpf ergänzt er: „Wehe du bist morgen nicht fit."

Stumm nicke ich. Er kann sie nicht sehen, kann nicht verstehen, was mir der Spiegel zeigt und weshalb ich jede Nacht meinen Schlaf dafür eintausche. Seit einem Jahr.

In der allerersten Nacht war ich erschrocken, hielt das hier für einen Traum, etwas, was nur in Filmen und Mangas passierte, aber es wiederholte sich, jede Nacht aufs Neue. Doch so, wie ich ihr meine Aufmerksamkeit schenke, macht sie es auch für mich.

Am Morgen, wenn ich aufwache, ist sie verschwunden, dann sieht mir wieder nur mein eigenes Spiegelbild entgegen, aber sobald es wieder dunkel ist, wird sie da sein, wie jede Nacht zuvor auch.

Ermutigt greife ich nach dem Block und dem Stift zu meiner Linken und beginne eines unserer geschriebenen Gespräche.

Dein Spiegelbild an meiner Seite (Tendou x OC) | Haikyuu Oneshot | AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt